Das Ordensleben
Zur Situation der Orden im 14. Jahrhundert
Die Krise des 14. Jahrhunderts, die die Kirche wie die gesamte Gesellschaft erfasste, traf auch die großen Ordensgemeinschaften. Der zunehmende Wohlstand der Klöster, das verderbliche Kommendenwesen[1], Kriege und Schicksalsschläge aller Art, demographische Umwälzungen, die schweren Verluste durch die Pest[2] und die Aufnahme zu junger und oft ungeeigneter Mitglieder hatten eine verbreitete Mutlosigkeit, ein Nachlassen der Zucht wie auch des religiösen und wissenschaftlichen Strebens zur Folge. Mit der Entschuldigung, man müsse sich den Umständen anpassen, war vielfach nicht nur der Buchstabe, sondern auch der Geist der Regel aus dem Blickfeld entschwunden. Soziale Ungleichheiten innerhalb ein und derselben Gemeinschaft und schließlich die durch das Schisma verursachte Spaltung ganzer Ordensfamilien taten ein Übriges dazu. Auch die Dominikaner, die seit ihrer Gründung auf über 630 Konvente mit etwa 12000 Brüdern angewachsen waren, zu denen seit Ende des 13. Jahrhunderts noch die Nonnenklöster und die Bußbruderschaften dazukamen,[3] blieben davon nicht verschont. Nach Caterinas eigenen Worten befand sich der Dominikanerorden damals in einem „verwilderten Zustand”, für den ein neuer Generalmagister „dringend nötig” wäre (vgl. Brief 185 an Papst Gregor XI. nach Avignon).
In ihrem spirituellen Hauptwerk, dem Dialog, kommt Caterina auf das „so schwere Übel“ zu sprechen, das „in die Gärten der heiligen Orden[4] eingedrungen ist“ und für das sie vor allem jene Vorgesetzten mitverantwortlich macht, die nicht nur eine Zurechtweisung scheuen, „sondern sogar dazu aktiv beitragen“, wenn sie „ihre in Sünde verstrickten Mitbrüder in Frauenklöster zu jenen senden, die ebenfalls bereits fleischgewordene Teufelinnen geworden sind.“ Aus den anfänglichen Vertraulichkeiten, die „unter dem Anschein der Frömmigkeit“ ausgetauscht werden, erwachsen erst „die stinkenden Blumen der unanständigen Gedanken“, dann die „faulenden Blätter der Worte“ und schließlich „die Taten mit ihren sichtbaren Früchten, den Kindern“, sodass dann die Betreffenden aus dem Orden austreten, „wobei er ein Schurke wird und sie eine öffentliche Hure“ (Dialog 125). Und der Grund dafür: die Missachtung der Regel, die vielfach durch abweichende Gewohnheiten, Dispensen und Privilegien außer Kraft gesetzt wurde.
Ein weiteres Übel der Bettelordensklöster des 14. Jahrhunderts war die sogenannte Regionalisierung, die zunehmende Rekrutierung des Nachwuchses aus dem eigenen Hinterland. Das heißt, man blieb im Bereich des Heimatkonvents, im Umkreis jener Familien, die das Kloster mit Stiftungen bedachten, und suchte hier soziale und religiöse Sicherheit. Umgekehrt hatten auch die stiftenden Familien die Gewissheit, dass ihren eigenen Klosterangehörigen ein erträglicher Lebensstil garantiert war. Das damit aufkommende „Privatleben“ (die vita privata) hatte zwangsläufig das persönliche Armutsideal der einzelnen Ordensmitglieder untergraben und eine Reform dringend notwendig gemacht.
Auch Caterina beklagte „den zu großen Besitz und das viele Geld, das sie privat haben“, als eine wesentliche Ursache für den Verfall.[5] Denn „wenn sie nichts auszugeben hätten, würden sie nicht so ungeordnet dahinleben und hätten keine so absonderlichen Freundschaften“ (Dialog 125). Vor allem in Brief 215 an einige Frauenklöster in Bologna beschreibt sie die elende Ordensfrau, die durch den „Gestank“ ihrer sündhaften Lebensweise mitschuldig ist, dass die Menschen in der Welt „den Respekt vor dem heiligen Ordensleben verloren“ haben. Und dann kommt sie auf das Anhäufen von Besitz zu sprechen, auf die „dekorativen Vorhänge und Federbetten, die überflüssigen und unzüchtigen Kleider“, das Verteilen von Geschenken, um sich die Menschen geneigt zu machen, auf das Herumtrödeln und das andauernde Geschwätz im Sprechzimmer, das dort „unter dem Anschein der Frömmigkeit“ geführt wird. Anstelle von Buße und Gebet liebt sie „den Genuss und den Schmuck, teure Körperpflege und üppige Speisen und verhält sich nicht wie eine Braut Christi, sondern wie eine Dienerin des Teufels und eine öffentliche Hure.“ Statt ihrer Priorin zu gehorchen, dient sie voll Eifer dem „Teufel und ihrer eigenen Sinnlichkeit“, die nun „ihre Priorin“ geworden sind. Dabei neigt sie zu so unsinnigen Wünschen und Begierden, „wie sie der Teufel sonst nirgends findet.“ Ja, es stört sie nicht einmal, „wenn sie sich an Männer heranmacht, um sie zu ungeordneter Liebe zu ermutigen – und zwar so sehr, dass oft zu sehen war, wie selbst ein für Gott bestimmter Ort zu einem Stall wurde, indem es tatsächlich zur Todsünde kam.“ Diese elende Braut Christi „flieht ihre Zelle wie einen Todfeind; sie lässt ihr Offizium aus und isst nicht gern im Refektorium zusammen mit den armen Schwestern, sondern speist viel lieber abgesondert, um es bequemer zu haben und bessere Speisen zu genießen.“ Und woher kommen diese vielen Sünden? Für Caterina ist die Antwort eindeutig: „Aus der sinnlichen Eigenliebe.“
Reformbestrebungen und Neuaufbrüche
Obwohl diese drastischen Beispiele die allgemein verbreitete Vorstellung vom Niedergang und Verfall des Ordenswesens im Spätmittelalter bestätigen, dürfen dennoch die positiven Entwicklungen und die Reformbemühungen nicht übersehen werden[6], die gleichzeitig von den großen Heiligen dieser Epoche ihren Ausgang nahmen (Birgitta von Schweden, Caterina von Siena, Bernhardin von Siena, Johannes Kapistran), von Päpsten und weltlichen Großen angeregt wurden oder sich in städtischen Zentren bemerkbar machten (Nürnberg, Venedig, Prag). Zeugnis von der ungebrochenen Kraft des Glaubens geben auch die Neugründungen, wie etwa die Benediktiner-Kongregation der Olivetaner,[7] der 1367 gegründete Orden der heiligen Birgitta oder die Jesuaten des Giovanni Colombini. Nicht zuletzt war das 14. Jahrhundert auch das große Zeitalter des Kartäuserordens, der damals zu den Säulen der Kirche zählte.[8] Die Reformbestrebungen in den großen Bettelorden, die allgemein mit dem Begriff der „Observanz“ in Verbindung gebracht werden, hatten zum Ziel, ihre Mitglieder wieder zu einer gewissenhaften Einhaltung ihrer Ordensregel zu führen.[9]
Der wohl größte und entscheidendste Impuls zur Erneuerung kam aber nicht aus einem der Kernorden, sondern sozusagen vom Rand her, von einer Dominikaner-Terziarin, einer Mantellatin: von Caterina von Siena.[10] Durch ihr beispielhaftes Leben und ihre überzeugenden Worte wurde sie zur treibenden Kraft für die Reform des Gesamtordens. Dass sie dabei ihren Einfluss nicht nur auf den Orden oder ihren Schülerkreis beschränkte, sondern ihn vor allem an der Spitze, beim Papst, geltend zu machen suchte, um so der ganzen Kirche zu helfen, war ihre einmalige und ganz besondere Sendung.
Für Caterina war die eigentliche Ursache aller Übel in Kirche und Gesellschaft letztlich die Selbstsucht, der Egoismus der Menschen. Nicht die Institutionen müssen daher verändert werden, „denn die Orden selber sind in sich heilig und vom Heiligen Geist gestiftet und begründet und können durch das Versagen ihrer Mitglieder weder verdorben noch zugrunde gerichtet werden“ (Dialog 125), sondern die Herzen der Menschen. Hier, im innersten Kern der Persönlichkeit, muss eine Erneuerung geschehen, hier muss die Reform beginnen, indem jeder einzelne versucht, seiner Berufung entsprechend vor Gott und der Welt zu leben.
W. S.
Anmerkungen:
[1] Kommende, lat. commendare – anvertrauen. Darunter versteht man den in der Karolingerzeit entstandenen (und von der Kirche stets bekämpften) Brauch, dass der Fürst bzw. Landesherr einen ihm genehmen Laien, Kardinal oder Bischof mit der Leitung eines kirchlichen Amtes (meist einer reichen Abtei) betraut, sodass er in den Genuss der Pfründe (Einkünfte) kommt (und vielfach auch die Ernennung des Priors mitentscheidet), ansonsten aber das Amt nach seiner spirituellen Seite nicht selber verwaltet.
[2] Die große Pest von 1348/49, der in Europa etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung zum Opfer fiel, beschleunigte nicht nur verschiedene wirtschaftliche und soziale Veränderungen, sondern hatte auch zur Folge, dass die Zahl der Ordensleute und der Kleriker für etliche Jahrzehnte stark zurückgegangen war.
[3] In Italien gab es im 14. Jahrhundert in den vier ital. Provinzen (Lombardia superior, Lombardia inferior, Romana und Regni Siciliae) über 40 Dominikanerinnenklöster und für die Klarissen in den 14 Provinzen Italiens nicht weniger als 198 Konvente. Die Zahlen sind der Series generalis capituli Neapolitani (ed. Golubovich: Bibliotheca bio-bibliografica della Terra Santa e dell´Oriente francescano II, Florenz 1913, 245–249) entnommen, zit. bei: Carola Jäggi, Frauenklöster im Spätmittelalter, Petersberg 2006, 23.
[4] In Caterinas bilderreicher Sprache werden die Orden als heilige Gärten dargestellt, als eine Zierde der Kirche, in denen die Tugenden blühen und die einzelnen Mitglieder als duftende Blumen ein „Wohlgeruch Christi“ (2 Kor 2,15) sein sollen. Nun aber wuchern die Laster.
[5] Vgl. etwa die Bekehrung der beiden Franziskaner Lazzarino da Pisa (Prozess 490–491) und Gabriele da Volterra durch Caterina. Gabriele hatte „mit solchem Aufwand gelebt, dass er in seinem Kloster aus drei Zellen für sich eine einzige gemacht und sie mit so prunkvollen Schmuckstücken und Möbeln ausgestattet hatte, dass es für einen Kardinal mehr als genug gewesen wäre; sein prächtiges Bett hatte seidene Decken und rings herum Vorhänge, und es gab noch so viele andere Kostbarkeiten, dass der Wert, wenn man noch die Bücher hinzuzählte, hundert Dukaten erreichte“ (Prozess 573–575)-
[6] Die einseitige Darstellung vom völligen Niedergang und Verfall der Kirche des Spätmittelalters ist heute nicht mehr haltbar. Dieses Bild nahm man gerne als Hintergrund, um die Notwendigkeit der Reformation ins helle Licht zu rücken und den Bruch mit der Kirche des Mittelalters zu rechtfertigen. Vgl. K. Elm (Hrsg.), Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen (Berliner Historische Studien, Bd. 14, Ordensstudien VI), Berlin 1989.
[7] Der Gründer der Olivetaner von Monteoliveto, Bernardo Tolomei aus Siena, starb 1348 im großen Pestjahr, als Caterina gerade ein Jahr alt war. Die Kongregation der Olivetaner fand rasche Verbreitung und bestand bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts in Italien aus 83 Klöstern.
[8] Von den insgesamt 271 Gründungen im Verlauf seiner Geschichte entstanden 105 Klöster im 14. Jahrhundert.
[9] Auf institutioneller Ebene konnte die Observanten-Bewegung keinen vollen Erfolg erzielen; weder bei den Dominkanern noch bei den Franziskanern gelang es ihr, den Orden als Ganzes zu prägen. Es lässt sich aber nicht bestreiten, dass die Bettelorden durch diese Bewegung das Ansehen und den religiösen Einfluss, den sie im 13. Jahrhundert gehabt und dann eingebüßt hatten, weitgehend wieder erlangten. Vgl. K. Elm, aaO.
[10] Der weibliche Zweig der Dominikaner, seit 1267 dem Gesamtorden eingegliedert, hatte sich zunächst nur langsam verbreitet. Bis 1357 waren es insgesamt 157 Dominikanerinnenklöster (wovon ein großer Teil zur Provinz Teutonia gehörte). In Italien traten die Laienanhänger vor allem in die Bruderschaften des Büßerordens (Ordo Penitentiae) ein. 1285 gab ihnen der Ordensmeister Munio von Zamora zu Florenz eine Regel zur Unterstützung der dominikanischen Glaubensverkündigung. Seitdem war der „Orden der Brüder und Schwestern von der Buße des hl. Dominikus“ dem Dominikanerorden inkorporiert und unterstand dem Ordensmeister sowie den Provinzialen. Die Regel des Dritten Ordens der Dominikaner wurde erst später bestätigt. Erst nachdem Caterina am Beispiel ihres eigenen Lebens durch die Orthodoxie ihrer Lehre und durch ihre Treue zum römischen Papsttum die Verdienste der Mantellaten aufgezeigt hatte, wurde ihre Lebensform approbiert (1405, 1439). Der Generalminister Raimund von Capua setzte sich vor allem mit Hilfe von Tommaso Caffarini für die Approbation der Regel und für die Heiligsprechung Caterinas ein.
Als Mantellaten wurden all jene Terziaren (männlich und weiblich) bezeichnet, die nach außen hin kenntlich waren durch das Tragen eines langen Mantels. Solche Mantellaten gab es auch bei den Augustiner-Eremiten und Serviten.