Auf dem Weg zur Heiligsprechung

Raimunds Legenda und der Prozess von Castello
Referat vor Ordensschwestern in der Schweiz
Ich möchte Ihnen, liebe Schwestern, heute einen kleinen Überblick über die Kanonisation unserer Heiligen geben und Ihnen zugleich in Erinnerung rufen, dass die Schweiz durchaus in einer gewissen Beziehung zur heiligen Caterina von Siena steht, wie übrigens auch meine Heimat Österreich.
Caterinas Werke und vor allem die von ihrem Beichtvater Raimund von Capua verfasste Biographie, die Legenda Maior, gehörten nach der Erfindung des Buchdrucks gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu den ersten Druckerzeugnissen und waren in ganz Europa verbreitet. Zuvor hatte man ihre Werke in Form von Handschriften verschickt. Eine der bedeutendsten Handschriften, der Pagliaresi–Codex (CVP 3514), der von ihrem Sekretär Neri di Landoccio Pagliaresi stammt und den Großteil ihrer Briefe enthält, befindet sich heute in der Wiener Nationalbibliothek. Im Wiener Kunsthistorischen Museum ist das berühmte Bild von Giovanni Battista Tiepolo – Caterina mit der Dornenkrone – zu sehen. Und das ursprüngliche Gnadenbild von Mariazell stammt von Andrea Vanni, einem Schüler Caterinas, dem wir ihr bekanntes Bildnis in San Domenico in Siena verdanken und dem sie auch drei Briefe geschrieben hat, Brief 358, 366 und 363. Schließlich gibt es auch von den ehemaligen Kartausen in Mauerbach bei Wien und in Aggsbach an der Donau Verbindungslinien zu Caterina.
Wenn ich an die Schweiz denke, so fallen mir drei Orte ein, die ich mit Caterina in Verbindung bringen würde: Einsiedeln, Konstanz und Basel. Einsiedeln, weil dort der Johannes-Verlag erstmals Caterinas Hauptwerk, den „Dialog“ in deutscher Sprache herausgebracht hat – allerdings in stark gekürzter Form. Konstanz als jene Stadt, in der mit der Wahl Papst Martin I. das fast 40 Jahre dauernde Abendländische Schisma beendet wurde. Und Basel, weil an diesem Ort die Zukunft der Kirche, für die sich Caterina so sehr eingesetzt hat, auf dem Spiel stand.
Auf dem Konzil von Konstanz galt es zunächst, die drei Päpste zur Abdankung zu bewegen: Johannes XXIII. (Pisa) wollte nicht und musste dazu gezwungen werden. Benedikt XIII. (Avignon) verschanzte sich bis zu seinem Tod in Spanien auf der Festung Peniscola (Caterina hatte noch vor Ausbruch des Schismas an ihn zwei Briefe geschrieben, als er noch Kardinal Pedro de Luna war, Brief 284 und 293). Und der dritte, der die eigentliche und rechtmäßige Papst-Linie vertrat, Gregor XII. (Rom), trat schließlich freiwillig zurück. Caterina hatte ihm fünf Monate vor ihrem Tod bei seiner Ernennung zum Bischof von Venedig einen Brief geschrieben und ihn ermahnt, treu zu Urban VI. zu stehen. Als Bewunderer Caterinas trug er später nach ihrem Tod einen Zahn als Reliquie um seinen Hals. Nun war er selbst Papst geworden und bereit, von seinem Amt zurückzutreten, um die Einheit der Kirche zu ermöglichen. Die Rücktrittserklärung auf dem Konzil von Konstanz 1415 verlas sein Legat, Kardinal Giovanni Dominici OP, der ebenfalls ein großer Verehrer Caterinas war. In seiner Jugendzeit hatte er sie persönlich kennengelernt, und später als Dominikaner wurde er durch Caterina von einem schweren Sprachfehler geheilt.
Der dritte Ort, Basel, hat indirekt mit Caterina etwas zu tun, weil hier, 30 Jahre nach Konstanz, letztlich die Entscheidung über die Zukunft der Kirche gefallen ist. Denn was in Konstanz aus der Not des Schismas heraus eine Ausnahme war (die Absetzung und Wahl des Papstes durch ein Konzil), das wollte nun die Synode von Basel mit den Worten: „Das Konzil steht über dem Papst“ zur allgemeinen Grundordnung der Kirche erheben, was bedeuten würde, Christus habe seine Kirche nicht auf Petrus, sondern auf das Konzil, d.h. auf die Gemeinschaft der Apostel gegründet. Ein junger, genial begabter Gelehrter, einer der bedeutendsten dieses Jahrhunderts, der zuerst noch ein Anhänger dieser Ideen von Basel war, wurde später ein glühender Verteidiger des Petrusamtes und zuletzt selbst Papst: Pius II., dessen bedeutendste Tat während seines Pontifikates dann die Kanonisation der heiligen Caterina von Siena werden sollte.
Aeneas Silvius Piccolomini, wie er ursprünglich hieß, war Humanist, Dichter und Geschichtsschreiber, er war Sekretär und Diplomat am Hof Kaiser Friedrichs III. in Wien und Wr. Neustadt und führte ein sehr freies, ungebundenes Leben, ehe es zu einer radikalen Änderung kam: Er wurde Priester, Bischof in Triest und Siena, Kardinal und schließlich 1458 Papst. (Man hat den Eindruck, dass Caterinas Einfluss auf die Päpste sich vom Himmel aus auch hier deutlich gezeigt hat). Und nun beginnt ein Sinneswandel. Seinen Kritikern, die ihm sein früheres Leben vorhielten, schrieb er in aller Öffentlichkeit: „Folgt dem, was Wir jetzt sagen, glaubt dem Greis mehr als dem Jüngling; Verwerft Aeneas, haltet Euch an Pius!“ Ihm ging es jetzt um das Papsttum, die Kirche und die Einheit Europas. 1453 war Konstantinopel vom Islam erobert worden, und diese Expansion ging weiter. Als Gegengewicht wollte Pius eine gesamteuropäische Verteidigungsallianz aufbauen, was ihm aber nicht gelang. 1460 stiftet er die Universität in Basel. Die wichtigste Tat seines Pontifikates aber ist dennoch die Heiligsprechung Caterinas. Übrigens die einzige Frau, die im 15. Jahrhundert kanonisiert wurde.
Kein „Santo subito“
Die Wege, die zu einer Heiligsprechung führen, sind in Länge und Art sehr unterschiedlich: manche sind kurz (kaum ein Jahr dauerte es bei Antonius von Padua), andere wiederum sind äußerst lange und schwierig. Nie geht es dabei nur um ein Sezieren von Fakten. Immer sind auch andere Dinge mit im Spiel: die kirchliche und politische Situation, das Geld, entsprechende Initiatoren und Interessensgruppen, oder auch Vorbehalte anderer Gemeinschaften, die darin eine Konkurrenz für ihren Heiligen oder ihre Heilige sehen. Es spielt jedenfalls vieles mit. Wir erinnern uns noch an die Bilder von der Beerdigung Papst Johannes Pauls II. in Rom im April 2005, an die Menschenmassen und die bereits damals auftauchenden Transparente mit der Aufschrift „Santo subito“. Dieser Wunsch des Volkes wurde zwar nicht sofort umgesetzt, aber immerhin neun Jahre später (Mai 2011, Seligsprechung durch Papst Benedikt XVI., April 2014, Heiligsprechung durch Papst Franziskus).
Bei Caterina war es anders, obwohl sie bereits zu ihren Lebzeiten als Heilige verehrt wurde. Nach ihrem Tod war der Andrang der Menschen in Rom so groß, dass sie drei Tage lang in der Minerva-Kirche aufgebahrt bleiben musste. Und als man einige Jahre später (1385) ihre Kopfreliquie nach Siena brachte, gab es dort wochenlang organisierte Feierlichkeiten. Das innere „Santo subito“ unter den Gläubigen und Verehrern war also da – dennoch musste Caterina länger darauf warten. Und zwar unerwartet lange, ganze 81 Jahre. Die Gründe dafür waren vielfältig. Zwar nützten ihre Schüler und Anhänger jede Gelegenheit, um für ihre Heiligsprechung einzutreten und zu werben, auch gab es Bittgesuche von Seiten weltlicher Herrscher an Papst Bonifaz IX. (1389–1404), Innozenz VII. (1404–1406) und Gregor XII. (1406–1415). Doch durch das Schisma und die nachfolgenden Wirren war an eine Kanonisation zunächst nicht zu denken. Pius II. gab später in der Heiligsprechungs-Bulle auch den Grund dafür an: Denn die einen würden sich freuen, die anderen aber würden Ärgernis nehmen. Und das geht nicht. „Die Vorsehung hatte deshalb, wie ich meine, diese späte Kanonisation so gefügt.“
Die Kanonisation durch Papst Pius II.
Caterina wurde schließlich 81 Jahre nach ihrem Tod von Papst Pius II. im Jahre 1461 in Rom heiliggesprochen in einer glanzvollen Festfeier, die insgesamt fünf Stunden gedauert hat und von über 600 Doppelkerzen erhellt wurde. Der Papst verlas die Heiligsprechungsbulle, die er selbst verfasst hatte. Er sprach dabei zunächst ausführlich über das Unheil in der Welt, wie die Menschheit fortwährend versagt, Gott anzubeten und ihm zu danken. Dann sprach er weiter über das Gebet und die Hilfe der Heiligen, wobei er zuerst den hl. Bernhardin von Siena lobend hervorhob, (der am Vorabend des Jubiläumsjahres 1350 von seinem Vorgänger kanonisiert worden war), ehe er dann auf Caterina zu sprechen kam. Dabei stellte er fest, dass sie aus derselben Stadt stammt wie Bernhardin, dass ihr Leben eng mit den Päpsten ihrer Zeit verbunden war, dass es bereits mehrere Päpste gab, die sie heiligsprechen wollten (Urban VI., Bonifaz IX., Innozenz VII., und Gregor XII.), aber durch die Zeitumstände dazu nicht in der Lage waren; und dass schließlich nun er selbst, ein Sieneser Papst, eine Tochter aus seiner Heimat zur Ehre der Altäre erheben dürfe. Darüber sei er gewiss höchst erfreut. Dennoch habe er angeordnet, ihr Leben und Wirken entsprechend den Regeln und Vorgaben der Kirche genauestens zu prüfen und zu untersuchen.
Bei dieser Untersuchung wurde vor allem – wie der Papst in der Bulle hervorhob – ihrem Leben und ihren mystischen Erfahrungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und auch der positiven Wirkung, die sie durch ihre Lehre auf andere Menschen ausübte: „Niemand nahte sich ihr, der sie nicht weiser und besser verlassen hätte. Ihre Gelehrsamkeit war eine eingegebene, nicht erworbene. Sie war mehr Lehrerin als Schülerin, so dass sie Professoren und selbst Bischöfen großer Kirchen die schwierigsten, die Gottheit betreffenden Fragen mit großer Weisheit beantwortete und dieselben so vollkommen befriedigte, dass sie, die wie Wölfe und wilde Löwen gekommen waren, wie gezähmte Lämmer von ihr gingen.“ Man merkt hier, welcher Quellen sich die Untersuchungs-Kommission vorwiegend bedient hat. Da es keine lebenden Zeugen mehr gab, konnte man sich nur darauf beziehen, was über Caterina glaubhaft aufgezeichnet war. Und das war zunächst einmal die Lebensbeschreibung, wie sie Caterinas geistlicher Führer und Beichtvater, Raimund von Capua, in seiner „Legenda Maior“, der Nachwelt hinterlassen hat.
Raimund von Capua
Raimund war wohl jene Person, die Caterina am besten kannte, auch wenn er sich die letzte Zeit nicht mehr in Rom aufhielt und daher bei ihrem Sterben nicht dabei sein konnte. Urban VI. hatte ihn nämlich Ende 1378, bald nach Caterinas Ankunft in Rom, nach Genua geschickt, um gegen Clemens VII. zu predigen. In der „Legenda“ berichtet er, wie sich Caterina im Hafen von Ostia von ihm mit Tränen in den Augen verabschiedet hatte in der Gewissheit, dass sie ihn hier auf Erden nie mehr sehen würde und wie sie dann niederkniete und über das abfahrende Schiff ein großes Kreuz zeichnete.
Raimund war in Genua Provinzial der lombardischen Provinz und nebenbei auch Magister der Theologie geworden. Als er dann von Genua aus Ende April 1380 (es war der Todestag Caterinas, der 29. April, ein Sonntag) zum Generalkapitel seines Ordens nach Bologna aufbrechen wollte – (wo er zum Generalmagister ernannt wurde, nachdem der bisherige Amtsinhaber, Èlias de Toulouse, zum Gegenpapst übergegangen war) – da wurde ihm auf eine außergewöhnliche Weise der Heimgang Caterinas mitgeteilt: Er hatte eben die hl. Messe gefeiert und war gerade dabei, in den Schlafsaal zu gehen, um dort sein Gepäck für die Abreise vorzubereiten: „Als ich aber an einem Bild der allerseligsten Jungfrau vorbeiging, sprach ich, wie es der Gewohnheit der Fratres entspricht, still ein Ave Maria, und zufällig hemmte ich ein wenig meinen Schritt. Da ertönte plötzlich eine Stimme, ohne den geringsten Laut in der Luft: „Sei ohne Furcht, fürchte nichts! Ich bin hier für Dich; ich bin im Himmel für Dich da. Ich werde Dich beschützen und bewahren. Sei getrost und fürchte nichts, ich bin hier für Dich“ (Legenda Maior 368). Erst später erfuhr er, dass dies genau zu ihrer Sterbestunde war.
Den Schülern hatte Caterina vor dem Sterben eine Art geistliches Testament hinterlassen, und dann jedem einzelnen von ihnen Anweisungen gegeben, was sie dann später tun sollten. Für Raimund gab es etwas anderes: Er besaß – als eine Art Vermächtnis – ihren letzten Brief, in dem sie ihm so etwas wie ein Programm für seine Zukunft aufgeschrieben hatte: Es ist dies der Brief 373, vom 15. Februar 1380. Darin heißt es: „Nun bitte und beschwöre ich Euch, Vater und Sohn, der Ihr mir anvertraut wurdet von jener lieben Mutter Maria: wenn Ihr hört, dass Gott das Auge seiner Barmherzigkeit auf mich richtet, dann erneuert Euer Leben. Entledigt Euch jeder sinnlichen Neigung und werft Euch in dieses Schiff der heiligen Kirche! Seid im Umgang mit den Menschen immer vorsichtig. In Eurer wirklichen Zelle könnt Ihr nur wenig verweilen, die Zelle Eures Herzens aber sollt Ihr immer bewohnen und sie immer bei Euch tragen. Ihr wisst ja, wenn wir uns darin eingeschlossen haben, können uns die Feinde nichts anhaben. Jeder Dienst aber, den Ihr zu verrichten habt, soll auf Gott ausgerichtet und in seinem Sinn geordnet sein. Schließlich bitte ich Euch, lasst Euer Herz in einer heiligen und wahren Klugheit heranreifen. Euer Leben soll in den Augen der Weltleute vorbildlich sein. Passt Euch aber nie den Lebensgewohnheiten der Welt an. Erneuert und vervollkommnet in Euch jene Großmut gegen die Armen und die Liebe zur freiwilligen Armut, wie Ihr sie immer gehabt habt. Lasst sie frisch bleiben in echter und vollkommener Demut. Werdet durch kein Amt und durch keine Würde, die Gott Euch etwa zuteilwerden lässt, nachlässig, sondern dringt vielmehr immer tiefer ein in das Tal der Demut und stärkt Euch am Tisch des Kreuzes. Dort holt Euch die Kraft für die Seele! Umarmt wie eine Mutter das demütige und beständige Gebet, verbunden mit heiliger Nachtwache. Zelebriert jeden Tag die heilige Messe außer Ihr seid durch einen Notfall verhindert. Flieht müßige und leichtsinnige Gespräche! Zeigt im Reden und im ganzen Benehmen einen reifen Charakter. Legt ab jede Verzärtelung gegen Euch selbst und jede sklavische Furcht! Denn nicht solcher Menschen bedarf die Kirche, sondern sie braucht solche, die streng sind mit sich selbst, mit ihr aber Mitleid haben. Das sind die Weisungen, um die Ihr Euch bemühen sollt. Ich bitte Euch darum.“
Mit diesem Programm Caterinas im Herzen machte sich Raimund ans Werk: An die Reform seines Ordens. Und das war dringend nötig. Denn für Caterina befand sich der Dominikanerorden in einem „verwilderten Zustand”, für den ein neuer Generalmagister „dringend nötig” wäre. (Brief 185 an Gregor XI.). Und als dann nach Ausbruch des Schismas ein Teil des Ordens zu Clemens VII. überschwenkte, schrieb sie an Raimund: „Immer hat dieser Orden der Verherrlichung unseres Glaubens gedient. Jetzt aber ist er sein Schänder geworden, und dies betrübt mich bis in den Tod” (Brief 344).
Als neuer Generalmagister reist Raimund nun in alle Provinzen, von Neapel über Ungarn, Böhmen bis nach Deutschland. Es sollte in jeder Provinz wenigstens ein Reformkonvent errichtet werden, dem mindestens 12 Mönche angehören sollten, und diese Konvente sollten dann als Vorbilder für andere dienen. Ein schwieriges Unternehmen. (Man hat ihm vorgeworfen, er würde den Orden spalten, wenn etwa in ein und derselben Stadt zwei Konvente wären und er für den Observanten werben würde. Seine Antwort: Spalter sind jene, die die Regel nicht halten. (Ähnlich wie dann bei Teresas Reform in Spanien!) In Deutschland begann die Reform 1389 unter seiner Aufsicht durch Konrad von Preußen. Für Italien setzte er Giovanni Dominici als Generalvikar ein (der dann als Kardinallegat auf dem Konzil in Konstanz war). Giovanni Dominici hatte in Venedig ein Reformzentrum errichtet, die Klöster San Domenico in Castello und das Frauenkloster Corpus Christi errichtet (beide existieren heute nicht mehr) und auch einige ehemaligen Schüler Caterinas um sich versammelt.
In dieser Zeit seiner Tätigkeit als Generalmagister entstand in einem Zeitraum von zehn Jahren (1385–1395) die Lebensbeschreibung Caterinas, die Legenda Maior. Raimund wusste, dass für eine Kanonisation eine Vita erforderlich war. Zugleich konnte ein solches Werk ein weiterer Ansporn sein für eine Erneuerung innerhalb seines Ordens – was dann auch tatsächlich geschah. Denn der zündende Funke für die dominikanische Reform war eindeutig Caterina von Siena. Nördlich der Alpen waren daher die Übersetzungen der Legenda Maior weit verbreitet; und in den deutschen Frauenklöstern war es vor allem jene verkürzte Form dieser Vita, die unter dem Namen „Geistlicher Rosengarten“ bekannt geworden ist.
Raimund hat am Ende seiner Caterina-Biografie darauf verwiesen, dass alles, was er geschrieben hat – über Askese, Bekehrungen, mystische Erlebnisse, Wunder, Apostolat usw., dass dies alles wahr ist, und dass es noch viel mehr zu sagen gäbe. Aber er war sich auch im Klaren darüber, dass die Kirche zuallererst das persönliche Leben prüft, denn an den Früchten erkennt man den Baum. Weil aber, so Raimund weiter, „der Teufel diese Früchte zu verhindern sucht, sind unbedingt Ausdauer notwendig und vor allem die Geduld.“ Dies sei daher auch der Grund, warum bei der Kanonisation der Heiligen mehr nach den Werken der Geduld als nach anderen Werken geforscht wird, „denn sie sind es, die ein größeres Zeugnis der Liebe und Heiligkeit geben.“ Raimund hat daher am Ende seines Werkes noch ein eigenes Schlusskapitel über Caterinas Geduld angehängt – womit er auch tatsächlich eine wesentliche Eigenschaft unserer Heiligen ins Licht gehoben hat. Denn für Caterina war die Geduld – nach der Liebe – die größte aller Tugenden, gleichsam ihr „Mark“ und ihr innerster Kern.
Raimunds Legenda ist bis heute die wichtigste Quelle über Caterinas Leben und Wirken. Und das war sie in gewisser Weise auch für die Untersuchungskommission, die Pius II. damals für die Kanonisation eingesetzt hatte. Aber sie war es nicht allein bzw. sie wäre sogar allein zu wenig gewesen. Denn es gab eine Quelle, die für die Kommission noch entscheidender war: nämlich die Bezeugungen aus dem diözesanen Untersuchungs-Prozess des Bischofs von Venedig über das Leben und die Tugenden der heiligen Caterina von Siena.
Tommaso di Antonio da Siena (genannt Caffarini)
Unter den Schülern und Verehrer Caterinas, die sich im Reformzentrum Venedig niedergelassen hatten, gab es einen, der sich für die Verbreitung ihres Kultes und ihrer Werke besonders eingesetzt hat: Tommaso di Antonio da Siena, genannt Tommaso Caffarini. Er stammte aus Siena, war dort mit 15 Jahren bei den Dominikanern eingetreten und jetzt Prior in Venedig. Zuerst in San Giovanni e Paolo und dann in San Domenico in Castello. Tommaso hatte bald nach Caterinas Tod damit begonnen, alles zu sammeln, was er von und über Caterina bekommen konnte. Nun ließ er in seiner Schreibstube (Scriptorium) ihre Werke vervielfältigen und überall hin verbreiten. Weil Raimunds Vita zu umfangreich war, verfasste er auch eine Kurzform – die Legenda minor – und ebenso einen Ergänzungsband – das sogenannte Supplementum. (Wertvollste Ergänzungen darin sind die im ersten Teil wiedergegebenen Aufzeichnungen ihres damaligen Beichtvaters Tommaso dalla Fonte aus der Frühzeit Caterinas. Nachdem das Original dieser Aufzeichnungen verlorengegangen ist, sind sie uns auf diese Weise in ihren Grundzügen erhalten geblieben.)
Caffarini war – so würden wir heute sagen – ein Marketing-Genie. Er hat alle Register gezogen, die damals zur Verfügung standen, um Caterinas Leben und Wirken bekannt zu machen. Nicht nur ihre Schriften ließ er in ganz Europa verbreiten. Er ließ auch Bilder von ihr anfertigen, in großen Formaten und als kleine Bildchen, die er überall hin verschickte. Er ließ Wandteppiche herstellen mit Szenen aus ihrem Leben, die dann an ihren Festtagen in der Kirche aufgehängt wurden. Er sorgte für Blumen, schmückte ihre Reliquien und ließ an ihren Gedenktagen ausgedehnte Predigten halten, in denen die Tugenden und Verdienste Caterinas hervorgehoben wurden. Durch all diese Aktivitäten drang der Geist Caterinas auf vielfältige Weise in die Herzen der Menschen.
Zwei Dinge aber fehlten noch: eine Heiligsprechung durch die Kirche, und die Anerkennung der Satzungen jener Gemeinschaft, deren Mitglied Caterina zeitlebens war, der Mantellatinnen, der Schwestern von der Buße des hl. Dominikus. Um beides war Caffarini bemüht. Das eine gelang ihm 1409: Die offizielle Errichtung des Drittordens durch die päpstliche Anerkennung der Regel von Munio Zamora. Das andere allerdings, Caterinas Heiligsprechung, stand noch in weiter Ferne (Caffarini starb 1434 in Venedig), aber er hatte dafür den entscheidenden Grund gelegt, indem er jenen diözesanen Informativprozess („Prozess von Castello“) in Gang setzte, der dann für die Kanonisation Caterinas entscheidend herangezogen wurde.
Natürlich haben ihm die Kritiker zum Vorwurf gemacht, dass er dabei im Hintergrund die Fäden gezogen habe, dass der Bischof von Venedig, Francesco Bembo, ein Freund der Dominikaner sei, dass einer der Antragsteller für den Prozess ein Verwandter des Bischofs war, und dass der Prozess selbst bereits vierzehn Tage nach Antragstellung ausgerechnet am Fest des hl. Dominikus eröffnet wurde. Alles nur Zufall? Gewiss nicht. Tommaso Caffarinis Regie war nicht zu übersehen. Auch wurde die Auswahl der Prozesszeugen allein von ihm getroffen. Er wollte vor allem von jenen ein positives Zeugnis haben, die mit Caterina beisammen waren und ihre Heiligkeit unmittelbar erlebten. Und er wollte diese Wahrheit bleibend festhalten und sie ans Licht heben. Kann man ihm das zum Vorwurf machen? Jesus hat gesagt: Lasst euer Licht „vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). Heute ist bereits jedes Kloster und jede Gemeinschaft im Internet vertreten und stellt sich positiv dar. Ohne Werbung, ohne Präsentation geht gar nichts, das wusste man schon damals. Entscheidend ist nur, dass alles der Wahrheit entspricht. Und weil dies bei Caterina von einigen bezweifelt wurde, wollte Caffarini darüber eine offizielle kirchliche Untersuchung.
Der Prozess von Castello (1411 – 1416)
Unter der Leitung des Bischofs von Castello (Venedig), Francesco Bembo, wurden in einem Zeitraum von sechs Jahren, 23 notariell beglaubigte und beeidete Zeugenaussagen zusammengetragen, geprüft und schließlich vom Bischof gutgeheißen. Die Zeugen waren vorwiegend hochgebildete und bereits ältere Männer des Geistes und des Glaubens, die ihre Aussagen vor einem Notar und im Angesicht Gottes mit einem Eid bezeugten. (Warum Caffarini keine Zeugen aus dem engen Kreis der Frauen und Schwestern um Caterina dazu eingeladen hat, bleibt offen. Entweder gab es keine weiblichen Zeugen mehr oder es geschah deshalb, weil solchen Aussagen damals grundsätzlich weniger Gewicht beigemessen wurde.) Das Prozess-Original, eine kleine Handschrift von knapp 450 Seiten, ist heute in Siena im Dominikanerkonvent San Domenico in einer kleinen Metallschatulle unter der Kopf-Reliquie Caterinas aufbewahrt und spricht hier, so wie das Haupt, schweigend zu den Gläubigen über Caterinas Heiligkeit. Der Gelehrte, der von dieser Handschrift eine druckfertige Vorlage schuf, war der Dominikaner Marie-Hyazinthe Laurent OP.
Raimunds „Legenda“ wurde von der Kommission, die später Pius II. eingesetzt hatte, gründlich untersucht, aber sein Werk, war eine eher „private Initiative“ – wenngleich Raimund als Ordensmagister ein hohes Ansehen besaß. Entscheidender und wichtiger waren für die Kommission die Prozessakte von Castello – da sie unter der Leitung und im Auftrag eines Diözesanbischofs erstellt wurden und damit einen offiziellen kirchlichen Charakter besaßen. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Ausführungen von Caterinas ehemaligem Sekretär Stefano Maconi, der detailliert darüber berichtet, wie Caterina in Avignon von drei hochstehenden Theologen über ihre Rechtgläubigkeit befragt wurde. Eine Prüfung, die sie glänzend bestanden hatte. Maconi bezeugt: „Unter jenen drei Personen war ein Erzbischof aus dem Franziskanerorden, der in seinem Verhalten einen pharisäischen Hochmut an den Tag legte und sich offensichtlich mit den Worten der heiligen Jungfrau nicht zufriedengab. Die zwei anderen aber erhoben sich schließlich gegen ihn und sagten: ‚Was erwartet Ihr noch mehr von dieser Jungfrau? Ohne Zweifel hat sie über diese Gegenstände klarer gesprochen, als wir es jemals von einem der Gelehrten finden konnten, und sie hat in gehöriger Weise sehr viele Zeichen des wahren Glaubens zu erkennen gegeben.‘ Und so kam es unter ihnen zu einer Spaltung; schließlich aber gingen sie in gleicher Weise beruhigt wie getröstet weg und berichteten dem Papst, dass sie niemals eine so demütige und so erleuchtete Seele gefunden hätten.“ (Prozess S. 396–98).
Auch Pius II. hatte diesen Punkt in der Bulle besonders hervorgehoben, wenn er schrieb: „Ihre Gelehrsamkeit war eine eingegebene, nicht erworbene. Sie war mehr Lehrerin als Schülerin.“ Spätere päpstliche Schreiben haben diesen bekannten Passus mehrmals zitiert. Letzten Endes aber waren es nicht diese Fähigkeiten und auch nicht die außerordentlichen Taten und Wunder, die beeindruckten, sondern die Heiligkeit ihrer Person. Und gerade drüber wurde im Prozess von Castello entscheidendes festgehalten. Das Bedeutsame an diesen Aussagen liegt gerade darin, dass hier Zeugen zu Wort kamen, die Caterina persönlich kannten, in einem Naheverhältnis zu ihr standen und daher Erlebnisse berichteten, wie sie sonst nirgends zu finden sind. Von ihrer Heiligkeit, die sie erlebten und mit eigenen Augen sahen, waren sie berührt, und davon gaben sie Zeugnis. Ohne diese Akte von Castello hätten wir wesentliche Kenntnisse über Caterina nicht zur Verfügung.
Tommaso Caffarini hatte sich fast 40 Jahre lang bemüht, mit Hilfe seiner dominikanischen Mitbrüder in Venedig, Caterinas Kult zu verbreiten. Der zweite Arm bei diesem Werk war Stefano Maconi. Von Seitz aus haben die Kartäuser durch das Kopieren ihrer Werke mitgeholfen, dass Caterina sehr rasch über die Grenzen Italiens hinaus bekannt wurde.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Heiligsprechung Caterinas bereits mit dem Bischöflichen Prozess von Castello ihren Anfang nahm und schließlich – nach über 40-jähriger Unterbrechung durch die Umstände der Zeit – unter Papst Pius II. mit dem Apostolischen Prozess und der feierlichen Kanonisation in St. Peter zu Ende geführt wurde. Zugleich können wir aber auch sagen, dass in diesem über 80 Jahre währenden Zeitbogen der Geschichte, in dem der Kampf um das Petrusamt durchgefochten wurde (Schisma/Konstanz/Basel), der Sieg auch ein Sieg Caterinas war, und sie daher zurecht einmal mehr als die „Heilige des Papsttums“ bezeichnet werden kann.
W. S.