Mystikerin der Politik

Caterinas soziales und politisches Denken
Caterina hatte in den letzten fünf Jahren ihres Lebens zahlreiche Briefe an Herrscher und Regierungen geschrieben und ebenso an Personen, die sich in irgendeiner Form politisch aktiv betätigten, und sie war auch bereit, wenn sie dazu aufgefordert wurde, sich durch ihre Anwesenheit und durch ihr gesprochenes Wort als Vermittlerin zur Verfügung zu stellen. So entstanden ihre Reise nach Avignon, ihr Einsatz im Orcia-Tal, ihre Friedensmission nach Florenz und zuletzt ihre Berufung nach Rom. Dies hat manche dazu geführt, in ihr eine Art heilige Politikerin zu sehen, die sich auch auf dem Parkett der damaligen Diplomatie bewegte. Aber Caterina war keine Politikerin. Nirgends erwähnt sie irgendeinen Konflikt innerhalb Italiens oder Europas, bei dem es bloß um wirtschaftliche oder strategisch machtpolitische Interessen ging. Ihr ging es nur um das Heil der Seelen und um die Erneuerung und das Wohl der heiligen Kirche, und dafür wollte sie sich einsetzen. Da es jedoch eine Trennung von Kirche und Staat nicht gab, betrat sie damit unweigerlich auch die politische Bühne. Und dies gerade zu einer Zeit, in der es zwei Konfliktbereiche europäischen Zuschnitts zu bewältigen galt: nämlich die Auseinandersetzung zwischen der Republik Florenz und dem Papsttum, und den Beginn des großen Abendländischen Schismas. Caterinas Briefe, die in diesem Zusammenhang entstanden sind, haben nicht nur ihre letzten Lebensjahre entscheidend geprägt, sondern auch ihren Ruhm mitbegründet und bis heute bewahrt.
Caterinas „politische Lehre“
Aus der Sicht ihres Glaubens und ihrer mystischen Erfahrung war Caterina klar geworden, dass eine soziale Ordnung nur auf dem Fundament einer moralischen Ordnung bestehen kann und dass daher die Hauptverantwortung allen Elends in den moralischen und sittlichen Defiziten der Gesellschaft und der menschlichen Autoritäten lag. Aus dieser Erkenntnis entstand ihr Bemühen, die verschiedenen Verantwortungsträger durch ihre Worte und Briefe persönlich zu beeinflussen. Wenn sie dabei manchmal auch für konkrete politischer Aktionen Empfehlungen äußerte, so ging es ihr doch in erster Linie immer darum, ihnen das Bild des idealen Machthabers und der geordneten Gesellschaft vor Augen zu stellen und sie zu ermutigen und zu ermahnen, in Übereinstimmung mit der göttlichen Wahrheit zu handeln und den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu folgen. Diese in ihren Briefen verstreut aufscheinenden Gedanken stellen im Grunde nichts anderes als eine reine Wiedergabe der Lehre der Kirche dar.[1]
Caterinas soziales und politisches Denken beruht auf der Wahrheit, dass Gott den Menschen aus Liebe nach seinem Bild und Gleichnis erschuf und ihn neugeschaffen hat im Blut seines Sohnes. In diesem großen Geheimnis der Schöpfung und Erlösung gründet die Würde jeder menschlichen Person und damit auch Caterinas übernatürliche Sicht der Gesellschaft. Auch sie ist von Gott, da er den Menschen „in die Bindung der Liebe“ gefesselt, das heißt „auf Gemeinschaft angelegt hat.“[2] Zweck jeder Gesellschaft ist daher das Gemeinwohl, das allgemeine Staatsziel (vergleichbar dem öffentlichen Interesse), darüber hinaus aber die Hinordnung des Menschen auf ein übernatürliches und ewiges Ziel, dem daher die Strukturen der sozialen Ordnung dienen müssen. Es ist verdienstvoll und gut, sich für das Gemeinwohl einzusetzen und für den Nächsten sogar sein Leben zu opfern. Niemals aber darf das geschehen um den Preis einer Sünde, „nicht einmal zur Rettung einer einzigen Seele.“ Ja selbst wenn es möglich wäre, auf diese Weise die ganze Welt zu retten, dürften wir es nicht tun, „denn es ist nicht erlaubt, auch nur die kleinste Sünde zu begehen, um etwas Gutes zu erlangen.“[3]
Das besondere Augenmerk Caterinas aber gilt der habituellen Eignung und sittlichen Grundhaltung des politischen Akteurs, der erkennen muss, dass seine Macht nicht von ihm kommt, sondern von Gott stammt. Egal ob er hineingeboren oder gewählt wurde oder sie gewaltsam erwarb – sie ist niemals sein Eigentum, sondern „Leihgabe“ Gottes ebenso wie sein Herrschaftsgebiet,[4] sodass er keinerlei Grund hat, auf die eigene Position oder Macht in der Welt stolz zu sein.[5] Sie auszuüben verlangt von ihrem Träger gewiss Kompetenz, aber auch ein hohes Maß an Demut. Im Blick auf diesen göttlichen Hintergrund hat daher Caterina die zivilen Autoritäten stets mit großer Ehrfurcht behandelt und sie oftmals als ihre „Väter“ und „Herren“ bezeichnet. Und so war für sie auch der Gehorsam der weltlichen Untergebenen gegenüber den legitimen Machthabern eine Erhebung zu Gott, da sie ihn repräsentierten.[6] Die Autoritäten dagegen finden in diesem göttlichen Ursprung die Grenzen ihrer Machtausübung.
Weil jede Autorität im Grunde nur Geliehenes verwaltet, ist sie für die Ausübung ihres Amtes auch persönlich verantwortlich, und zwar nicht irgendeinem Geschöpf, einem Volk oder dem Vaterland („denn im Hinblick auf Gott müssen wir unparteiisch sein, da wir alle aus seinem heiligen Geist hervorgegangen sind“[7]), sondern nur Gott gegenüber.
Dies betrifft zunächst die eigene Person,[8] aber auch „die vielen“, schreibt sie an den Grafen von Fondi, „für deren Seele und Leib Ihr verantwortlich seid und für die Ihr vor dem höchsten Richter Rechenschaft ablegen müsst.“[9]
Wenn Gott Macht verleiht, muss dieses Instrument im Dienst der Gerechtigkeit und des Friedens stehen und dafür eingesetzt werden. Dem französischen König hält Caterina vor, er würde bei den Missbräuchen seiner Untergebenen „wegschauen“, und zu Papst Gregor XI. sagt sie sogar, es wäre besser für ihn gewesen, auf sein Amt zu verzichten als es nur zögerlich einzusetzen. Denn „da (Gott) Euch Autorität gegeben hat und Ihr sie angenommen habt, müsst Ihr auch von Eurer Macht und Gewalt Gebrauch machen. Andernfalls wäre es besser und mehr zur Ehre Gottes und zum Heil Eurer Seele, darauf zu verzichten.“[10]
Verliehene Macht uneigennützig zu gebrauchen in Gerechtigkeit und Gottesfurcht, um so der menschlichen Gesellschaft zu dienen, ist für die politische Autorität zu jeder Zeit eine besondere Herausforderung. Denn für den erbsündlich geschwächten Menschen ist der Machtmissbrauch (durch die Sorge um Anerkennung oder Ablehnung, durch Begünstigung oder Bestechung, Schmeichelei oder Einschüchterung, Profitstreben oder persönliche Rache) eine ständige Versuchung und „der Mangel an Gerechtigkeit der alleinige Grund so vieler vergangener und gegenwärtiger Übel.“[11]
Auch zu Caterinas Zeiten wurden aus vielerlei Gründen Ämter missbraucht, die Armen zu Sündenböcken gemacht und die Wahrheit ins Gegenteil verkehrt. Wann immer sie einem derartigen Unrecht begegnete, scheute sie nicht zurück, die Verantwortlichen zu ermahnen: Dort, „wo sie in Gerechtigkeit strafen sollten“, schrieb sie an die Stadtväter von Bologna, „schmeicheln sie und tun so, als sähen sie nichts. So jedenfalls verhalten sie sich denen gegenüber, von denen sie annehmen, dass sie ihre Stellung gefährden könnten. Aber wenn sie es mit den Armen zu tun haben, die nichts zählen und die sie nicht fürchten, zeigen sie strengste Gerechtigkeit und legen ihnen für das kleinste Vergehen erbarmungslos schwere Lasten auf.“[12]
Ähnliches schrieb sie an die Regierung von Siena: „Die Armen, die nicht den tausendsten Teil an solchen Verbrechen begehen (wie man sie bei den Reichen findet), werden in aller Härte bestraft ohne jedes Erbarmen. Dieser elende Mensch aber, der dazu bestellt wurde, die Stadt zu regieren (und sich nicht einmal selbst regieren kann!), drückt die Augen zu und geht sogar so weit, dass er jene für schuldig erklärt, die im Recht sind und die Schuldigen freispricht.“[13] Die Ursache dieser Ungerechtigkeiten ist für Caterina die menschliche Selbstsucht. Sie ist „die Quelle aller Übel“[14] und „der einzige Grund für die Spaltungen in der Welt und unter den Menschen.“[15] Denn die Eigenliebe führt nicht nur „zum Ruin der Seelenstadt“, sondern auch „zum Umsturz und zum Niedergang der weltlichen Städte“, für welche die Regierungen verantwortlich sind.[16]
Wenn Caterina gerne von der „heiligen“ Gerechtigkeit spricht, dann deshalb, weil sie damit zum Ausdruck bringen möchte, dass sie Anteil hat an der göttlichen Gerechtigkeit, die in der menschlichen Gerechtigkeit Anwendung finden soll, und zwar auch durch die Strafe: „Seht zu,“ mahnte sie Karl V. von Frankreich, „dass alle Untaten in Eurem Königreich bestraft und die Tugenden geschätzt werden. Denn das ist das Werk der göttlichen Gerechtigkeit.“[17]
Diese strafende Gerechtigkeit will nicht verderben, sondern das Gemeinwohl und die persönliche Würde der Bürger schützen, indem sie deren freie Entfaltung verteidigt. Dabei muss sie aber immer „gewürzt sein mit Erbarmen,“[18] so wie dies auch bei Gottes Gerechtigkeit im Geheimnis der Erlösung geschieht, sonst wäre sie bloß „ein Abgrund an Grausamkeit und eher Unrecht als Gerechtigkeit.“[19]
Weil diese „liebliche Tugend der Gerechtigkeit“ das unabdingbare Fundament jeder politischen Handlung ist, ohne die es auch keine geordnete Gemeinschaft gibt, ist sie vor allem von der Autorität selbst gefordert. Sie muss zuerst beim Amtsträger beginnen, dann wird er sie auch anderen erweisen, denn „wir führen andere genauso, wie wir uns selber führen, weil wir unsere Nächsten mit derselben Liebe lieben, mit der wir uns lieben.“[20] Es gibt zwar viele, die „über Städte und Burgen herrschen, aber über sich selbst keine Kontrolle haben.“[21] Für Caterina steht daher eindeutig fest: Wer über die „Stadt seiner Seele“ nicht herrschen kann, wird sich bei der Führung und Leitung weltlicher Städte nicht anders verhalten. Daher sind „jene, die sich nicht selbst beherrschen können, auch nicht geeignet und fähig, andere zu regieren.“[22] In dieser radikalen Formulierung ist – gleichsam als einer Art Kurzfassung – ihr ganzes politisches Konzept zum Ausdruck gebracht.[23]
Gottes „gute und heilige Gebote“ gelten für alle. Daher ist es auch für den Politiker möglich, in der Gnade zu leben. Je mehr er Gott liebt, umso mehr wird seine Liebe auch die Mitmenschen erfassen.[24] Und wenn er die Menschen liebt, dann ist er auch gerecht, denn „die Liebe macht uns gerecht.“[25]
Diese Gerechtigkeit, schrieb Caterina dem König von Ungarn wie auch dem König von Frankreich, wird ein Träger der Autorität vor allem dann bewahren, wenn er sich zu einem „Vater der Armen“ macht,[26] da die Übung der Nächstenliebe zugleich die Seele des persönlichen Lebens und der politischen Verantwortung jedes Herrschers ist.[27] Und an den Maler und Politiker Andrea Vanni in Siena schrieb sie, dass diejenigen, die mit den Idealen der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Liebe in Übereinstimmung stehen, ihre Macht zum allgemeinen Wohl auch gut einzusetzen werden, denn „die vollkommene Liebe zu Gott bringt die vollkommene Nächstenliebe hervor, und so werdet Ihr über Eure Untergebenen mit derselben Vollkommenheit herrschen, mit der Ihr über Euch selbst Herr seid.“[28]
Allerdings ist Caterina realistisch genug, dass sie darüber hinaus die praktische Seite nicht aus dem Auge verliert. Neben der moralischen Grundlage sind für das politische (und das geistliche) Amt auch gewisse natürliche Fähigkeiten erforderlich, „denn es gibt viele, die an sich gut sind, aber ungeeignet, um andere zu führen. Das ist der Grund, warum religiöse Gemeinschaften zu Schaden kommen.“[29] Was sie hier dem Generalprior der Kartäuser schrieb, gilt genauso für die weltlichen Gemeinschaften: „Bevorzugt nicht irgendwelche Günstlinge bei der Wahl der Beamten für Eure Stadt,“ mahnt sie die Florentiner, „sondern wählt tugendhafte, kluge und besonnene Männer, die mit dem Licht der Vernunft die notwendige Ordnung herstellen, die für den inneren und äußeren Frieden der Stadt erforderlich ist. ... Es braucht reife, erfahrene Männer, keine Kinder.“[30] Und auch solche, „die Gott fürchten und das Gemeinwohl ihrem eigenen Wohl vorziehen.“[31]
Selbst den militärischen Anführern gegenüber rät sie zu einer klugen Auswahl ihrer Vertrauensleute: „Ich bitte Euch achtet darauf, dass Ihr Euch mit ehrlichen, reifen und weisen Ratgebern umgebt, die treu und zuverlässig sind. Wählt nur tapfere, treue und äußerst gewissenhafte Männer zu Offizieren, denn gute Häupter haben immer gute Glieder. Und seid auf der Hut, dass kein Verrat geschieht.“[32]
Hier wird deutlich, dass wahre Mystik nicht im Gegensatz steht zu handfesten Grundsätzen und Erfordernissen des täglichen Lebens, sondern diese vielmehr bestärkt und fördert. Caterina beweist und bezeugt, dass politisches Engagement und Heiligkeit einander nicht ausschließen, dass der erlaubte und korrekte Gebrauch der politischen Macht eine heilbringende Tat ist, und dass bei denen, die mit solchen natürlichen Anlagen begabt sind, sogar eine Pflicht besteht, sich dem politischen Leben zu widmen.
„Mystikerin der Politik“
Caterina von Siena wird gerne als „politische Heilige“[33] oder „Heilige der Politik“[34] bezeichnet und man spricht von ihren „politischen Briefen“[35] und von ihrer „heiligen Politik“[36], aber kann man auch sagen, dass sie eine Politikerin war? Papst Paul VI. gab am 4. Oktober 1970 in seiner Homilie in der Peterskirche in Rom anlässlich der Erhebung Caterinas zur Kirchenlehrerin auf diese Frage die Antwort: „Ja, zweifellos, in außergewöhnlicher Weise, aber in einem rein spirituellen Sinn.“[37] Und Papst Johannes Paul II. bezeichnete sie fünfundzwanzig Jahre später als „Mystikerin der Politik“[38]. Diese Deutungen sind wichtig. Denn damit wird Caterinas politische Dimension weder einseitig überbewertet noch als „naiv und sentimental“ abgetan,[39] sondern in rechter Weise eingeordnet in das Ganze ihrer Persönlichkeit und ihrer Bedeutung als Patronin Europas und als Lehrerin der Kirche.
Caterina war und ist zuallererst immer die große Heilige, und nur dadurch wurde sie zur anerkannten Autorität. Was die Menschen zu ihr hinzog, war ihre Verbundenheit mit Christus. Das Übernatürliche prägte ihr Leben. Von daher kam auch die Sicherheit bei ihrem Auftreten vor der Welt. Dieses Bild wird unmittelbar sichtbar für jeden, der sich mit dem spirituellen Reichtum ihrer Schriften befasst: Immer und allen verkündet sie die Wahrheit und die Liebe Gottes und den sittlichen und moralischen Anspruch des Evangeliums, und nur wie nebenbei wird auf ein aktuelles politisches Thema eingegangen. An politischer Propaganda war sie nicht interessiert. Sie kümmerte sich weder um die wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen unter den Banken, noch um den Außenhandelsstreit zwischen Genua und Venedig, noch um die Intrigen der Mailander Visconti. Aber wenn es um das Heil der Menschen ging im Schoß der Kirche, wenn der Papst angegriffen wurde, dann hatte sie sich damit befasst und Stellung bezogen. Denn da der Papst zugleich ein weltlicher Herrscher war und eine Trennung von Kirche und Staat noch nicht bestand, kam es bei ihrem Einsatz für den Papst und die Kirche auch unweigerlich zu einer Berührung mit politischen Fragen bzw. mit der weltlichen Autorität. Man kann daher viele ihrer Briefe, die zudem nicht in einem abgeschiedenen Kloster, sondern inmitten des gesellschaftlichen Lebens der Zeit und an den verschiedensten Orten ihres Aufenthaltes entstanden, nur richtig verstehen, wenn man sie auch betrachtet im Kontext der aktuellen Situation.
Caterina lebte auf ihren Reisen im Kreis ihrer Anhänger, die zu Hause in verschiedensten kirchlichen und weltlichen Positionen standen und von denen ihr einige als Sekretäre dienten; sie wurde eingeladen von Adeligen und von Fürsten, sie wohnte bei Politikern und Regenten, schätzte die männliche Tugend des Mutes und der Tapferkeit, fuhr mit dem Schiff und reiste zu Lande, nährte sich ausschließlich vom Allerheiligsten Sakrament, fiel immer wieder in Ekstase und veranlasste Tausende dazu, alles liegen und stehenzulassen, um sie zu sehen und zu hören. Es ist dieses Ineinander von Kontemplation und Aktion, von Gebetsgeist und Caritas, von übernatürlicher Ausstrahlung und nüchterner Sachlichkeit, von Mystik und Politik, das auch heute noch viele an ihr fasziniert.[40]
Sie wurde von Gott beschenkt mit höchsten Gnadengaben, sie erlebte die „Mystische Hochzeit“ mit Christus, einen geheimnisvollen Herztausch, und sie trug die unsichtbaren Wundmale des Herrn, die sie während ihres Pisa-Aufenthaltes empfangen hatte.[41] Aber sie wurde auch geprägt vom Krieg der „Otto Santi“, von dem von ihr mitverursachten Ende der päpstlichen Herrschaft in Avignon und von dem Ausbruch des Abendländischen Schismas. Ohne diese Ereignisse, die ihr Leben ausgespannt hielten zwischen den Städten Siena, Pisa, Florenz, Avignon und Rom, wäre sie gar nicht denkbar, und es war die Korrespondenz, die im Zusammenhang damit entstanden ist, die sie berühmt gemacht hat.[42] Wer einmal ihre Briefe nicht nur spirituell, sondern mit einer mehr historischen Aufmerksamkeit zu lesen versucht, wird überrascht feststellen, wie innerhalb der Dichte geistlicher Gedanken der politische Hintergrund vermehrt durchzuschimmern beginnt.
Man darf Caterinas Bedeutung nicht bloß auf ihre politischen Aktivitäten zurückführen; dies wäre ein Unrecht an ihrer zutiefst spirituellen Persönlichkeit. Dennoch ist es überraschend, wie eine Frau damals in komplizierte politische Situationen einbezogen wurde, „um der Kirche einen Dienst zu erweisen, weil der Heilige Vater es wünscht“[43]; wie sich die Prominenz von Pisa am Stadttor versammelte, um sie zu empfangen, und ähnlich dann später in Florenz die Mitglieder der Signoria;[44] wie Gregor XI. in Avignon die Friedensverhandlungen mit den erwarteten Florentiner Gesandten in ihre Hände legte[45] und sie dann eineinhalb Jahre später neuerlich als Vermittlerin in die Arno-Metropole schickte;[46] und wie sie schließlich nach Ausbruch des Schismas von Papst Urban VI. nach Rom befohlen wurde, um mit ihren Gefährten an seiner Seite für die Einheit der Kirche zu kämpfen.[47] Dieses päpstliche Interesse an ihrer Person war gewiss „nicht nur eine Folge ihres heiligen Lebens und ihrer überragenden Talente, einschließlich einer außergewöhnlichen Intelligenz, einer gewinnenden Persönlichkeit und der Gabe eines lebendigen und bewegenden Ausdrucks; sondern ihr heiliges Ansehen und ihr öffentlicher Ruf wurde auch mitgeformt von der politischen Szene, in der sie lebte und sich bewegte.“[48]
Selbst der anonyme zeitgenössische Chronist, der zu den Gegnern Caterinas gehörte, war von ihrem Auftreten in Florenz beeindruckt: „Diese Frau erhob sich und tadelte mit scharfen Worten die Widersacher der Kirche. Die Führer der Guelfen-Partei hießen sie freudig willkommen ... und lobten sie bis in den Himmel. Tatsächlich verstand sie aufgrund ihrer großen Intelligenz und ihrer eigenen Erfahrung viel von kirchlichen Problemen und wusste Bescheid ... Auch sprach und schrieb sie sehr gut, sei es aus freien Stücken und ohne jede Spur von Boshaftigkeit, sei es, dass sie von diesen Männern dazu veranlasst wurde. Jedenfalls nahm sie viele Male an den Zusammenkünften der Partei teil. Dabei erklärte sie, dass sich die Zuhörer ihre Ermahnungen wohl gefallen lassen müssten, weil es dringend notwendig sei, durch jedes erlaubte Mittel dem Krieg Einhalt zu gebieten.“[49]
Caterina hatte den Autoritäten niemals geschmeichelt. Der anerkannte Status ihrer Heiligkeit ermöglichte es ihr, die Anregungen aus dem Evangelium allen zu verkünden, egal ob es sich um Päpste, Kardinäle, Könige, um Regierungen oder um prominente Politiker handelte.
Dabei begeht man jedoch gegen Caterina kein Unrecht, wenn man sagt, dass sie viele Probleme nicht bemerkt hat und wohl auch nicht verstand und dass sie das Spiel der Politik, der Finanzen, der Diplomatie und des Sozialen nicht zu durchdringen vermochte. Aber sie sah das moralische Elend, den Widerstand der Gläubigen gegen ihr Haupt, den Papst, sie sah die Revolte der Kinder gegen den Vater und die Spaltung des mystischen Leibes der Kirche. Sie hat die menschlichen Abgründe der Seele gesehen mit ihrer Selbstsucht, und sie hat die Motive durchschaut, aus denen gekämpft wurde, um an die Macht zu kommen oder diese Macht für sich zu bewahren. Und so ist sie immer zuerst Predigerin, die furchtlos ihre Überzeugungen verteidigt aus dem Glauben heraus, dem anderen dadurch einen heiligen Dienst zu erweisen.
Da die Gerechtigkeit das Wesen des Politischen und der Friede das Ziel jeglicher Politik ist und beides nur durch Autorität erwirkt werden kann, hat Caterina dem Träger der Macht ihr besonderes Augenmerk geschenkt. Denn beides, Gerechtigkeit und Friede, müssen zuerst im Herzen des Akteurs zur Geltung kommen. Dies aber erfordert – neben den Tugenden der Klugheit, des Mutes und der Mäßigung – auch eine Beziehung zu Jesus Christus, ohne den der Mensch in seiner Personenwürde als Geschöpf Gottes nicht erkannt und eine „wahre und heilige Gerechtigkeit“ nicht bewahrt werden kann. Hier liegt auch ihre Aktualität als Patronin Europas.
Und so ist zu verstehen, dass Papst Paul VI. die heilige Caterina von Siena als „Politikerin sui generis“ bezeichnete, deren Lehre „immer noch ihre Bedeutung und ihren Wert bewahrt“ und ihren „reinsten und vollkommensten Ausdruck“ in dem kurzen und bündigen Satz findet, dass „niemand nach weltlichem oder göttlichen Recht ein Amt ausüben und dabei in Gottes Wohlgefallen bleiben kann, ohne die heilige Gerechtigkeit (Dialog 119).“[50] Damit steht sie auch ganz in der Tradition der großen klassischen Lehrer auf diesem Gebiet. Was aber Caterina und ihren „politischen Briefen“ die besondere Note verleiht, ist der leidenschaftliche Eifer, mit dem sie nicht bloß religiöse Ansprüche einfordert, sondern – im Blick auf das ewige Heil des Menschen – für jeden Adressaten zugleich betend vor Gott steht und bereit ist, für ihn sogar ihr Leben zu geben.
w. S.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Balducci, Anna Maria, Massime di reggimento civile, di Santa Caterina da Siena, Edizioni Cateriniane, Roma 1971,11–12.
[2] Vgl. Dialog 148.
[3] Brief 268 an die Regierung von Bologna.
[4] Vgl. Brief 235 an Karl V., König von Frankreich.
[5] Vgl. Brief 28 an Bernabò Visconti.
[6] Vgl. dazu Röm 13, 1–2: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes.“
[7] Brief 350 an Karl V., König von Frankreich.
[8] Vgl. Brief 149 an Piero Gambacorta.
[9] Brief 313 an den Grafen von Fondi.
[10] Brief 255 an Papst Gregor XI.
[11] Brief 358 an Andrea Vanni.
[12] Brief 268 an die Ältesten von Bologna.
[13] Brief 367 an die Herren Verteidiger der Stadt Siena.
[14] Vgl. Brief 350 an Karl V., König von Frankreich.
[15] Brief 268 an die Regierung von Bologna.
[16] Ebd.
[17] Brief 235 an Karl V., König von Frankreich.
[18] Vgl. Brief 268 an die Regierung von Bologna.
[19] Brief 291 an Papst Urban VI.
[20] Brief 358 an Andrea Vanni.
[21] Brief 254 an Pietro di Iacomo Tolomei.
[22] Brief 121 an die Herren Verteidiger der Stadt Siena.
[23] Vgl. Balducci, aaO., S. 41.
[24] Vgl. Brief 180 an den Senator Pietro del Monte Santa Maria.
[25] Vgl. Brief 357 an Ludwig I., König von Ungarn.
[26] Vgl. Brief 235 an Karl V., König von Frankreich.
[27] Vgl. Brief 357 an Ludwig I., König von Ungarn.
[28] Brief 358 an Andrea Vanni.
[29] Brief 55 an Dom Guillaume Rainaud.
[30] Brief 377 an die Signoria von Florenz.
[31] Brief 268 an die Regierung von Bologna.
[32] Brief 347 an Alberico da Barbiano und an seine übrigen Korporale.
[33] Vgl. Kranz, Gisbert. Politische Heilige und Katholische Reformatoren, Bd. 1, Augsburg 19642.
[34] Vgl. Pajardi, Piero. Caterina. La Santa della Politica, Milano 1993.
[35] Vgl. Strobl, Ferdinand, Katharina von Siena. Politische Briefe, Einsiedeln 1944.
[36] Vgl. Luongo: The Saintly Politics …, aaO.
[37] Vgl. AAS LXII (1970) 677–678.
[38] Vgl. Lettere di Giovanni Paolo II a Monsignor Gaetano Bonicelli, Arcivescovo di Siena, 1. Oktober 1995 (www.vatican.va/holy father/john paul ii/letters/1995).
[39] Vgl. Ennen, Edith, Frauen im Mittelalter, München 1987, S. 207
[40] Vgl. etwa Helbling, H., Katharina von Siena, Mystik und Politik, München 2000.
[41] Dies geschah am 1. April 1375 in Santa Cristina. Vgl. Legenda Maior 195–198.
[42] Thomas Luongo meint sogar: „Es gäbe keine Caterina von Siena ohne den Krieg der Otto santi“ (S. 207).
[43] Vgl. Brief 108 an Giovanna di Capo und Francesca.
[44] Vgl. Gardner, Edmund. Saint Catherine of Siena: A Study in the Religion, Literature and History of the Fourteenth Century in Italy. London: Dent; New York: Dutton&Co., 1907, 129; Legenda Maior 419.
[45] Raimund berichtet darüber in seiner Legenda Maior (419): „Ich fungierte als Dolmetscher zwischen dem Papst und der Jungfrau... Vor Gott und den Menschen kann ich bezeugen, da ich es selbst gehört und übersetzt habe, dass der Papst den Frieden in die Hände der Jungfrau legte, indem er sprach: Damit du klar siehst, dass ich den Frieden will, lege ich ihn einfach in deine Hände; vergiss aber nicht, dass dir damit auch die Ehre der Kirche anvertraut ist.“
[46] Vgl. Legenda Maior 421.
[47] Vgl. Legenda Maior 333: „Er (der Papst) gab den Auftrag, man möge ihr übermitteln, dass ihr Kommen im Hinblick auf den heiligen Gehorsam verlangt werde.“
[48] Luongo, aaO., S. 68.
[49] Vgl. Cronica fiorentina di Marchione di Coppo-Stefano, hg. von Rodolico, Ra 773, Teil XXX, S. 306.
[50] Vgl. AAS LXII (1970) 678.