Woher hat sie das?

 

Caterina von Siena: Woher hatte sie ihre Weisheit? (1)

Vortrag vor Ordensschwestern

 

Die Erhebung der hl. Caterina zur Kirchenlehrerin im Jahre 1970 hatte damals nicht nur begeisterte Zustimmung erfahren, sondern auch kritische Stimmen hervorgerufen. Eine Frau als Kirchenlehrerin sei bloß ein Zugeständnis an feministische Empfindlichkeiten, zudem könne man sie als Theologin nicht wirklich ernst nehmen. Was hat sie denn schon zu bieten? Und vor allem: woher hat sie das alles?

Das Ganze erinnert unwillkürlich an die Reaktion der Einwohner von Nazaret, nachdem sie die Worte Jesu vernommen hatten (Mt 13,55). Obwohl sie davon beeindruckt waren, konnten und wollten sie es dennoch nicht zulassen: „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns?“ Das heißt, wir kennen ihn ja. Er hat doch keine Ausbildung, er ist kein Schriftgelehrter. Woher hat er das alles? Mit diesen und ähnlichen Fragen wurde auch die hl. Caterina von Siena konfrontiert bei ihrem Besuch in Avignon. Die spätere Prüfung im Hinblick auf ihre Kanonisation brachte dann Licht ins Dunkel. Pius II. schrieb in der Heiligsprechungsbulle: „Ihre Gelehrsamkeit war eine eingegebene, nicht erworbene. Sie war mehr Lehrerin als Schülerin“. Das heißt, weil sie zeitlebens in die „Schule der Ewigen Wahrheit“ ging, wo Christus sie auch auf außergewöhnliche Weise belehrte, konnte sie anderen eine Lehrerin sein und zuletzt sogar Lehrerin der Kirche werden.

Gelehrte und Fachleute haben in den letzten Jahrzehnten mehrfach nach den Quellen geforscht, aus denen Caterina ihre Gedanken geschöpft haben könnte, bzw. tatsächlich geschöpft hat. Unverkennbar sind in ihren Texten präsent der hl. Thomas von Aquin und der hl. Augustinus, deren Gedanken sich in ihren Schriften widerspiegeln. Nachgewiesen wurde auch eine starke Nähe zu den Werken des Pisaner Dominikaners Domenico Cavalca. Manche versuchten auch den Franziskaner-Spiritualen Ubertino da Casale als Gedankengeber zu identifizieren. Aber dennoch bleibt die Frage bestehen nach der rein menschlichen Anlage ihres Geistes und der Fähigkeit, den Gedanken und Einsichten einen so lebendigen und so bildgewaltigen Ausdruck zu verleihen.  

Siena war im 14. Jahrhundert wirtschaftlich geprägt von der Textilverarbeitung und dem Bankwesen und kulturell von seinen künstlerischen Leistungen, vor allem auf dem Gebiet der Dichtung und der Malerei. Das Gespür für das Schöne, Erhabene, für Glanz und Farbe lag den Menschen im Blut. Die Geisteswissenschaft war in den Händen der religiösen Gemeinschaften. Die großen Orden, Franziskaner, Dominikaner, Augustiner hatten hier ihre Klöster und Studienhäuser und sorgten für die Ausbildung der nachkommenden Generation. Siena hatte aber auch eine eigene Universität (seit 1240), die von der Stadtverwaltung unterstützt wurde. Lehrer und Schüler waren damals untergebracht in den Kanonikaten und Pfarreien und in der Umgebung der Stadt. Durch sie wurde die Stadt zusätzlich belebt. – Das ist übrigens ähnlich wie heute: heute ist die Universität Siena vor allem bekannt durch sein Rechts- und Medizinstudium, 20 000 Studenten bei 50 000 Einwohner!

Eher unberührt von dem studentischen Leben war der Bereich um Fontebranda, der Senke zwischen dem Dom und San Domenico. Hier lebten die Färber und später die Ledergerber. Die Luft war erfüllt vom Geruch der Farbstoffe und Gerbmittel. Hier gab es keine Doktoren und Lehrer, nicht einmal bei den Kirchen San Antonio und San Pellegrino unweit von Caterinas Elternhaus, der Färberei ihres Vaters Iacopo Benincasa. Wie viele von Caterinas Familie lesen und schreiben konnten, ist nicht bekannt. Sicherlich nicht die Frauen in dieser Familie, die alle mit der Hausarbeit beschäftigt waren und die Älteren auf die jüngeren aufpassen mussten.

Caterina wurde hier 1347 als 24. Kind geboren, ein Jahr vor der schrecklichen Pest, die ganz Europa heimgesucht und auch Siena entvölkert hat. Caterina hat diese und auch die nachfolgenden Epidemien überlebt und war daher ihrer Mutter Lapa besonders ans Herz gewachsen. Sie war ein gesundes, frohes Kind und eine Plaudertasche, wie wir heute sagen würden. Sie hörte gerne den Geschichten zu, die von den Heiligen und Einsiedlern erzählt wurden. Sie ermunterte ihre Spielkameraden zu kleinen Bußübungen und zum Gebet und In ihrer kindlichen Fantasie versuchte sie auf den Spuren der Mönchsväter sogar in die Wüste zu gehen – indem sie sich vom Elternhaus entfernte – um dann abends wieder mit neuen und tiefen Eindrücken zurückzukehren. Die Biografen und Zeugen ihres Lebens berichten darüber. Aber nirgends ist die Rede von einer Schule oder von einem Privatunterricht.

Caterina war sich später dieses Mangels durchaus bewusst, indem sie Christus gegenüber auf ihre Einfalt verwies (Legenda Maior 113 und 133). Raimund berichtet uns, dass Caterina später – nachdem sie bereits bei den Bußschwestern eingetreten war – den Entschluss fasste, lesen zu lernen. Und zwar deshalb, weil sie den Wunsch hatte den Lobpreis Gottes und das Stundengebet zu verrichten. Eine Mitschwester schrieb ihr das Gebet auf und war ihre Lehrerin. Aber es war umsonst. Nachdem bereits viele Wochen vergangen und alle Mühen vergeblich waren, wandte sie sich an den Herrn selbst: „Herr, wenn es Dir gefällt, dass ich fähig werde zu lesen, um zur Zeit des Stundengebetes die Psalmen und Deine Lobgesänge zu singen, dann gewähre mir die Gnade und lehre Du mich, was ich mit eigenem Bemühen nicht zuwege bringen kann. Willst Du es aber nicht, dann geschehe Dein Wille, denn ich verbleibe gern in meiner Einfalt und verwende die mir von Dir geschenkte Lebenszeit sehr gern dazu, mich auf andere Weise in Dich zu versenken” (Legenda Maior 113). Sie tat dies nicht, weil sie entmutigt war oder vor den anderen Mantellatinnen ihren Misserfolg zu verbergen, sondern weil sie Gott mit den Psalmen, mit dem Gotteslob der Kirche preisen wollte. Und der Herr gewährte ihr augenblicklich diese Bitte.

An dieser Stelle ist es notwendig, neben einem wunderbaren Eingreifen Gottes auch darauf hinzuweisen, dass Caterina mit einer natürlichen Intelligenz und Intuition ausgestattet war, die über das gewöhnliche Maß hinausging. Raimund schreibt: „Ich war ganz verblüfft, als ich das erkannte, insbesondere deshalb, weil ich entdeckte, dass sie zwar sehr flüssig lesen konnte, wenn sie aber aufgefordert wurde, den Text silbenweise zu sprechen, nichts zu sagen wusste; ja sie erkannte kaum die einzelnen Buchstaben“ (Legenda Maior 113). Das heißt, ihr Lesen war ein intuitives Erfassen des Textes. Ähnlich war es mit dem Schreiben. Sie hat es nie schulmäßig gelernt. Ihre Schriften – die Briefe und den Dialog hat sie dann später ihren verschiedenen Sekretären diktiert. Dennoch war ihr von Gott auf ihre Bitte hin auf Rocca d‘ Orcia, wo sie den Sommer und Herbst des Jahres 1377 verbrachte, offensichtlich eine spontane Fähigkeit des Schreibens geschenkt worden (2). Das alles hindert aber nicht, zusammenfassend zu sagen, dass Caterina bis zum dem Alter, in dem man die Universität besucht oder einen schulischen Abschluss macht, praktisch Analphabetin war. Auch wenn sie später mit vielen gebildeten Leuten beisammen war (im Kreis ihrer Schüler waren Theologen, Akademiker, Künstler, Dichter, Handwerker und Politiker) und sie ihnen bei ihren Gesprächen zuhörte, kann man Caterina nicht als gebildete Person bezeichnen, obwohl sie in ihren Gedanken brillant und tiefgründig war.

Außerhalb der Heiligen Schrift, besonders der Evangelien und des hl. Paulus, hat sie nie bewiesen, dass sie mit der italienischen und lateinischen Literatur vertraut ist. In ihren Schriften finden sich keine Zitate von Dichtern oder Philosophen. Es gibt nur einzelne Sätze von kirchlichen Schriftstellern, die sie aus Predigten oder Lesungen gehört und sich eingeprägt hat. Oft weiß man nicht, von wem der Gedanke ist, den sie wiedergibt und so sagt sie dann etwa: „wie die Heiligen sagen“ oder „wie die Gelehrten sagen“.

Die ganze historische Kultur ihrer Zeit war auf die damals verbreiteten Heiligen-Viten reduziert, auf des „Leben der heiligen Väter“ des Dominikaners Domenico Cavalca und auf die „Legenda aurea“ des Giacomo da Varazze. Weitere Werke, aus denen sie inhaltlich vieles gehört und entnommen hat, waren der „Kreuzesspiegel“ des Domenico Cavalca und einige andere asketische Schriften. Mit diesem bescheidenen intellektuellen Gepäck begann diese Frau, den Männern die Wahrheiten, die sie vergessen hatten, beizubringen und ihnen zu sagen, wie sie sich verhalten sollten. Und hier ist der Punkt, wo die Frage entsteht: Wer hat sie auf diesen Lehrstuhl gestellt? Von wem hat sie das? Wer hat sie dazu befördert?

Als Caterina damals mit 16 oder 17 Jahren Mantellatin wurde, war sie die Jüngste von allen. Und zugleich diejenige, die am meisten zuhören und lernen wollte. Und da es damals für Menschen wie sie keine Abendschule gab, nahm sie sich vor, in die Schule des Herrn zu gehen, der keine komplizierte Grammatik und keine schwierigen Begriffe verwendet. Später wird sie dann zu ihrem Beichtvater Raimund von Capua sagen: „Mein Vater, haltet es als eine sichere Wahrheit fest, dass mich in allen Dingen, die zum Heil führen, niemals ein Mann oder eine Frau unterwiesen haben, sondern einzig mein Herr und Meister selbst. …. Er spricht zu mir entweder durch seine Eingebung oder durch seine klare Erscheinung, und zwar so, wie ich jetzt zu Euch rede” (Legenda Maior 84).

Freilich, niemand war Zuschauer dieser geheimen Unterweisung, noch gab es darüber Aufzeichnungen und Berichte. Sie hatte auch nicht das Gefühl, einen Lehrgang abgeschlossen zu haben, als ihr der Herr den Auftrag gab, hinauszugehen und sein Wort zu den Menschen zu bringen, weil er durch sie, eine schwache, ungelehrte Frau, den Stolz der Weisen verwirren wollte (Legenda Maior 120–122). Eher musste sie ja das umgekehrte fürchten, dass nämlich die Weisen versuchen würden, sie zu verwirren. Man kann sich also vorstellen, dass Caterina davor zurückschreckte und, wie Raimund berichtet: „diese Aufforderung des Herrn … für sie so schmerzlich gewesen sei, dass es ihr schien, als müsse ihr Herz zerspringen oder brechen“ (Legenda Maior 119).

Aber Caterina folgt. Sie widmet sich zunächst den Werken der Nächstenliebe und dem asketischen und frommen Leben. In diesen Dingen unterschied sie sich so sehr von ihren übrigen Mitschwestern, dass sie sofort die Führung in der Gruppe übernahm. Ein Teil der Mitschwestern ließ sich von diesem klaren Beispiel überzeugen, andere wurden eifersüchtig, weil sie ja keine Ausbildung besaß.

Diejenigen aber, die in ihr den Geist Gottes erkannten, von dem sie geleitet wurde, vertrauten ihren Gebeten. Und sie vertrauten ihr allmählich auch die schwierigsten Probleme an. Caterina hat sich nie zurückgezogen, wenn sie bei einer Sache den Willen Gottes erkannt hat. Dadurch erweckte sie oftmals den Eindruck einer unbescheidenen Kühnheit, was ihr manche mittelmäßige Kleingeister auch vorgeworfen haben. Aber Caterina vertraute der Macht der Liebe Gottes, die immer für uns Menschen da ist, wenn sie im Glauben angerufen wird. Und so übergab sie Ihm die Anliegen, die ihr anvertraut wurden in der Gewissheit, dass Gott ihr zuhören würde. Und Gott hörte tatsächlich auf sie.

Es waren Wunder der Bekehrung oft bei verhärtetsten Seelen, die sich zuerst jeder Diskussion widersetzten, aber dann als sie eingriff, wie Eis in der Sonne zu schmelzen begannen. Dazu kamen oft plötzliche Heilungen und andere Wunder, sodass sich bald ihr Ruf mehr und mehr zu verbreiten begann. Aber Caterinas Eingreifen war eine Glaubenslehre, die nicht jeder verstanden hat. Es war der Glaube an das Gebet, der sie mutig machte, ein Glaube, der auf einer zweifachen Gewissheit gegründet war:

Die erste lautete: Gott weiß, kann und will unsere gerechten Bitten erfüllen.

Und die zweite stützt sich darauf, dass es Gott selbst ist, der uns das Verlangen danach eingibt: „Wenn es also Gott ist, der will, dass wir etwas erbitten, so heißt das, dass er die Bitten erfüllen will und uns das geben will, worum wir bitten“ (Brief 266 an Ristoro Canigiani, ein Brief über das Bittgebet). Diese Lehre ist das Geheimnis der Kraft ihrer Gebete. Und sie appellierte an dieses Geheimnis immer dann, wenn ihr keine anderen Argumente mehr zur Verfügung standen.

Berühmt ist der Fall des Andrea di Naddino (der am 16. Dezember 1370 starb, vgl. Legenda Maior 224f). Eine ganze Nacht lang hatte sie für ihn zu Gott gefleht. Schließlich konnte sie Gottes Erbarmen für ihn gewinnen als sie zu Ihm sagte: „Bist Du es nicht, der mich dazu bestimmt hat, für das Heil der Seelen (und damit für ihn) zu beten. Also werde Dir selbst gerecht.“ Und zur selben Stunde erschien der Herr dem Sterbenden und versprach ihm Vergebung. Worauf dieser einen Priester rufen ließ und noch am selben Tag mit Gott versöhnt im Frieden verstarb (Legenda Maior 224–227).

Aber es gab noch andere Besonderheiten:

Erstens, dass sie es verstanden hat Zweifel zu zerstreuen und denen, die unentschlossen oder zögerlich waren, Sicherheit zu geben. Das war nicht nur eine Frage der Faszination, die von ihr ausging. Bartolomeo Dominici, einer ihrer jüngsten Beichtväter, konnte einen dramatischen Skrupel nur durch diese Argumente Caterinas überwinden (Brief 129). Im Prozess von Castello bezeugt Bartolomeo Dominici (Prozess, S. 451): „Mit der genannten Gelehrsamkeit, die ihr von oben zuteil wurde, ging Hand in Hand eine erstaunliche Beredsamkeit, wenn sie über Dinge sprach, die die Ehre Gottes und das Heil der Seelen betrafen. Gelehrte wie Laien waren voll Verwunderung und sprachen: ‚Woher hat sie diese Gelehrsamkeit, da sie doch in keiner Schule war?‘ Manche Neider glaubten, wir Brüder hätten sie unterwiesen, während doch, wie ich bereits gesagt habe, genau das Gegenteil der Fall war. Im Lauf der Zeit aber erkannte durch die tägliche Erfahrung fast die ganze Welt, wenn ich so sagen darf, dass ihr die Gelehrsamkeit von Gott eingegeben war.“

Weiters gibt es Beispiele, die zeigen, dass sie nicht nur innere Zweifel zu beseitigen verstand, sondern auch um verborgene Geheimnisse des Herzens wusste. Raimund berichtet, dass Caterina damals in Siena in aller Munde war, weil sie die Fähigkeit besaß, „auch verstockte Sünder zu bekehren. Täglich lehrte die Erfahrung, dass jeder, der mit ihr sprach, mochte sein Sinn noch so verhärtet sein, entweder völlig bekehrt wurde, was in den meisten Fällen geschah, oder sich wenigstens in Hinkunft von vielen seiner bisherigen Laster fernhielt“ (Legenda Maior 279f).

Niccolo dei Saracini, ein Verwandter von Caterinas Freundin Alessa, war ein schwerer Sünder, der sich endlich bekehrte und Beichte ablegte. Als ihn Caterina anschließend fragte: „Habt Ihr, Herr, wirklich alle Eure Taten richtig gebeichtet?“ antwortete er, dass er gewiss alles gesagt habe, woran er sich erinnern könne. Sie aber mahnte ihn noch einmal: „Denkt genau nach, ob Ihr alles gesagt habt!“ ... „Da nahm sie ihn beiseite und erinnerte ihn an eine schwere Sünde, die er, von anderen ungesehen, begangen hatte, als er in Apulien kämpfte.“ … Er beichtete diese Sünde und verkündete dann allen: „Kommt und seht die Jungfrau: Sie hat mir meine Sünden gesagt, die ich in weit entfernten Gegenden begangen habe. Ist sie nicht eine Heilige und Prophetin? Ja, sie ist es ohne Zweifel. Sie hat mir eine Sünde ins Gedächtnis gerufen, eine Sünde, die außer mir kein Mensch je wissen konnte.“ Und von jener Stunde an schloss er sich willig und gehorsam der Jungfrau an. (Vgl. Legenda Maior 281). Ähnliches geschah auch bei anderen und zudem gab es noch viele, die sie einfach aufsuchten, um ihren Rat zu erbitten und damit sie Frieden stifte, wo Streit und Uneinigkeit herrschten. Zu all dem sollte sie ein Wort sagen.

Sie wusste oft auch, wie man Diskussionen mit kurzen und wesentlichen Antworten unterbricht. Einem Prälaten gegenüber, der sich wegen ihrer häufigen Kommunionen mockierte und dafür Augustinus zitierte, der über diese Praxis sagte, dass er sie weder lobe noch tadle, antwortete Caterina: „Nun ja, wenn es der hl. Augustinus nicht tadelt, warum wollt Ihr, Herr, es dann tadeln?“ (Legenda Maior 314).

Den Gelehrten gegenüber, die mit vielen Differenzierungen und Unterscheidungen den Weg der Vollkommenheit für uns kompliziert und schwierig machen, widersetzte sie sich mit einer einfachen Leitlinie. Nämlich mit der Lehre einer realistischen Selbsteinschätzung, die in drei kurzen Überlegungen zusammengefasst ist:

Gott hat uns um seinetwillen geschaffen.
Jesus Christus hat uns mit seinem Blut aus unendlicher Liebe erlöst.
Ohne diese göttliche Güte könnten wir nicht von unseren Sünden erlöst werden.

Daraus ergeben sich drei praktische Regeln: 1. Habe immer die Güte Gottes vor Augen. 2. Verleugne den Eigenwillen oder die Eigenliebe um dieser Güte Gottes willen. 3. Beurteile den Nächsten nicht nach eigenem Geschmack, sondern nach Gottes Güte.

Diese Lehre der Großzügigkeit und der Güte hat die Menschen angezogen. Und so kamen viele zu ihr. Nicht zuerst, um Wunder zu sehen, sondern um auf ihr Wort zu hören, wobei die Bitten um ihren Rat oft auch aus der Ferne kamen. So wurden ihre geistliche Familie und ihre Korrespondenz geboren und damit zugleich ihre geistliche (spirituelle) Mutterschaft, die sich mit zunehmendem Ruhm auch über Siena hinaus immer mehr vergrößerte.

Die Stadt erlebte eine neue mystische Zeit. Trotz häufiger politischer Umwälzungen und immer wiederkehrender Plagen, neben dem praktischen Fehlen einer geistlichen Regierung durch den Bischof (er war in Avignon), bestand das Verlangen nach dem Göttlichen, das aus den zahlreichen Klöstern ausstrahlte. Nach der fruchtbaren Zeit der Franziskaner kam nun mit Caterina ein neuer spiritueller Frühling. Ihre „Verkündigung“ des Evangeliums geschah durch ihr Beispiel und durch ihre einfache, aber lebendige und bildhafte Ausdrucksweise. Sie spricht davon, dass Gott uns ein Buch geschenkt hat, nämlich seinen Sohn Jesus Christus. Und dieses Buch, das am Holz des Kreuzes geschrieben wurde, wurde nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit Blut. Und ihre leuchtenden Initialen sind die Wunden Christi  (vgl. Brief 309). Wer wäre so töricht, dass er dieses Buch nicht lesen könnte. (Das Bild von Christus als einem Buch, in dem die Lebensregel des Menschen eingeschrieben ist, wird von Caterina mehrfach verwendet (vgl. Br. 225 an Fra Lazzarino da Pisa oder Brief 318 an Sano di Maco). In Brief 316 an Daniella da Orvieto spricht sie auch von den leuchtenden Initialen: „Er hat sie (unsere Lebensregel) mit so großen Buchstaben in seinen Leib eingeschrieben, dass niemand sich entschuldigen kann, auch wenn er kaum etwas versteht. Und zwar schrieb er sie nicht mit Tinte, sondern mit seinem eigenen Blut. Siehst Du die leuchtenden Initialen in diesem Buch, wie groß sie sind? Sie alle offenbaren die Wahrheit des ewigen Vaters ...“ (Vgl. 1 Kor 2,2: „Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten.“)

Die Zuhörer und Verehrer begannen sich selbst als ihre Kinder und nicht als ihre Jünger zu sehen und sie nannten Caterina ihre „Mama“. Und als „Mutter“ begann sie nun ihre Kinder – Laien und Priester und sogar ihre Beichtväter, denen sie Anweisungen und Ratschläge gab, geistig zu führen.

Weil sie ein lebendiges Gespür für Gemeinschaft und für spirituelle Solidarität besaß, fühlte sie sich auch für jedes Übel mitverantwortlich, das die Welt und die Kirche heimsuchte. (Das war übrigens auch der Grund für ihr unermüdliches Wirken für den Kreuzzug und für die Reform und den Frieden der unter dem Papst vereinten Kirche.) Sie fühlte, dass sie denen, die sich ihr anvertrauten, nicht nur die Hilfe einiger Gebete anbieten musste, sondern auch eine konkrete Unterstützung – bis hin zur Bereitschaft einer stellvertretenden Hingabe, wie es Christus am Kreuz für uns Menschen getan hat. Als Ihr Vater Jacopo starb betete sie für seine sofortige Erlösung und bot sich an seiner Stelle mit folgenden Worten an: „Wenn diese Gnade nicht zu erlangen ist, ohne dass Gerechtigkeit in irgendeiner Weise geübt wird, dann möge diese Gerechtigkeit mich treffen. Ich bin bereit für meinen Vater jede Strafe zu erdulden, die Deine Güte beschließt“ (Vita 221). Ihr Opfer wurde sofort angenommen, und ihr ganzes Leben lang trug sie Schmerzen in den Hüften, was für sie ein Zeichen der Sühne und zugleich ein Zeichen der gewährten Vergebung war. Dies war ihre Art, die Liebe Christi nachzuahmen und seinem Wort zu folgen: „Das ist mein Gebot: dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12). Diese heroische Interpretation der Nächstenliebe hat sie bei vielen Gelegenheiten angewendet, besonders bei ihren geistlichen Kindern und Schülern.

Hier einige Beispiele:

– Neri di Landoccio dei Pagliaresi, Dichter und einer der wichtigsten Sekretäre. Ihm schrieb sie (Brief 99): „Ihr habt mich gebeten, Euch als meinen Sohn anzunehmen. Obwohl ich unwürdig, arm und elend bin, habe ich Euch bereits angenommen und nehme Euch von Herzen an. Und ich verpflichte mich und werde mich immer vor Gott verpflichten, für Euch und jede Eurer Sünden, die Ihr begangen habt oder begehen werdet, Sühne zu leisten.“

– Pietro da Milano, Kartäuser (Brief 331): „Ich habe von Euch einen Brief erhalten und ihn mit Freude aufgenommen, als ich von dem heiligen und guten Verlangen vernahm: dass Ihr durch Gottes Güte in Euch die Sehnsucht verspürt, Euer Leben einzusetzen zum Lob und Ruhme seines Namens. Ich antworte Euch auf den ersten Teil, was die Annahme Eurer Sünden anbelangt: Gerne verspreche ich bei der süßen Liebe Gottes, der uns das Blut seines Sohnes geschenkt hat, dass ich sie auf mich nehme. Ich werde den guten Gott bitten, Eure Schuld an meinem Leib zu bestrafen.“

– Berengar, Abt von Lezat, Nuntius der Toskana, (Brief 109). Ihm verspricht sie - nachdem er ihr brieflich drei Fragen vorgelegt hatte, den zweiten Punkt, der Verzeihung seiner Sünden betreffend:  Was den zweiten Punkt betrifft „möchte ich Euch folgendes sagen: Denkt daran, dass Gott nicht den Tod des Sünders will, sondern dass er sich bekehre und lebe. Als Eure un würdige Tochter habe ich die Schuld Eurer Sünden auf mich genommen – jetzt und auch in Zukunft –, und so werden wir Eure Sünden und meine zusammen verbrennen im Feuer der süßen Liebe, wo sie gänzlich verzehrt werden … Habt nur Mut! Und seid gewiss, dass die göttliche Gnade Euch verziehen hat.“

– für die Kirche: Es ist bekannt, dass Caterina für die Kirche und den papst sich als Opfer angeboten hat während des Schismas und nach dem Aufstand der Römer gegen Urban VI. am Beginn des Jahres 1380, vgl. Vita 346, bestätigt im Brief 371: „O ewiger Gott, nimm an das Opfer meines Leibes für den mystischen Leib Deiner heiligen Kirche“ und im Brief 373: „… würdet Ihr eine Tote nach St. Peter wandeln sehen. Und ich gehe dorthin, um von neuem ein wenig im Schiff der heiligen Kirche zu arbeiten.“

Diese Dinge waren so gewaltig, so menschliche und christlich, dass sie jenen, die den Titel und die Autorität von Lehrern hatten suspekt vorkommen mussten. Wenn man sich vorstellt, dass ihre Briefe und Botschaften in alle Richtungen gingen, die sie mit ihrer üblichen Überschrift diktiert hatte: „Ich, Caterina, Dienerin und Sklavin der Diener Jesu Christi, schreibe euch in seinem kostbaren Blut ...“ Wer war sie denn, dass sie es wagte, Briefe mit geistlicher Ausrichtung zu versenden – und zwar nicht nur an irgend jemanden, sondern an Autoritäten, an Politiker, Herrscher, Könige, Prälaten, Kardinäle, ja sogar an den Papst – und es wagte sie sogar zu ermahnen? Jemand musste diese Unwissende und Anmaßende verwirren. Vielleicht gar der böse Feind?

Es wurden mehrmals Versuche unternommen, sie genauer unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen. Dabei gingen die Prüfer mit der Praxis schulischer Methoden und Argumente zu ihr – und kehrten mit aufrichtiger Demut und einem tieferen Wissen über die Wahrheit wieder zurück. Einige Beispiele:

– Fra Lazzarino da Pisa. Ein gelehrter Franziskaner, der Caterina und ihre Anhänger verachtete und privat und öffentlich über sie hergezogen war, wollte sie eines Tages besuchen, um sie zu überführen. Nachdem er von Bartolomeo Dominici Caterina vorgestellt worden war, bat er sie, in vorgetäuschter Demut ihm ein paar Worte des Trostes und der Erbauung zu sagen, da sie die Gabe hätte, die Heiligen Schriften zu verstehen. Caterina aber antwortete, sie sei es, die von ihm, dem Meister der heiligen Wissenschaft erwarte, sie ihrerseits mit einem guten Wort zu trösten. Es verging die Zeit und es wurde spät. Lazzarino, der sie in seinem Herzen verachtete, sich aber weder siegreich noch besiegt fühlte, verabschiedete sich indem er sich ihren Gebeten empfahl. In der folgenden Nacht wachte er mit Tränen auf und konnte sein Weinen nicht beruhigen. Das ging auch den ganzen Tag so dahin. Als es neuerlich Abend wurde fragte er sich, ob dies ein Zeichen dafür sei, dass er den Herrn in irgendeiner Weise beleidigt habe. Und da vernahm er in seinem Inneren eine Stimme, die zu ihm sagte: „Hast du so schnell vergessen, dass du meine treue Dienerin Caterina so stolz verachtet hast und dass du dich ihren Gebeten heuchlerisch empfohlen hast?“ Dann trockneten die Tränen und so schnell wie möglich rannte er zum Haus der Jungfrau, warf sich vor ihre Füße, und sie tat dasselbe zu seinen Füßen. Schließlich, auf dem Boden auf einer Matte sitzend, konnte er ein langes und offenes Gespräch führen, und dann beruhigte er sich und bat und erhielt, als spiritueller Sohn angenommen zu werden. Bruder Lazzarino war einer der ersten, der mit Verachtung von den anderen „Caterinati“ genannt wurde, denn er sprach immer mit Begeisterung über seine Mutter, er folgte ihren Diktaten und entledigte seine Zelle von allem Überfluss und sein Herz von Stolz (Prozess 489–494).

Ähnliches geschah mit dem Franziskaner-Provinzial Gabriele da Volterra und dem Augustiner Bruder Giovanni Tantucci (genannt Bruder Giovanni Terzo), zwei Gelehrte, die sich auf ihre Gelehrsamkeit etwas einbildeten und Caterina mit komplizierten und schwierigen theologischen Fragen in Verlegenheit bringen wollten. An diesem Tag waren gerade viele ihrer Jünger und Schüler bei ihr: „Mein Vater, Ihr werdet sogleich sehen, wie zwei große Fische ins Netz gehen … Wie zwei wilde Löwen, stolz und aufgebläht in der bösen Absicht, die in ihren Herzen keimte, stürzten sich die beiden Magistri auf die reine Jungfrau und überschütteten sie mit einer Unmenge theologischer Streitfragen”. Am Ende aber fühlten sie sich von ihr überwältigt, sie bekehrten sich und wurden ihre Jünger (Gabriele bot seinen Schlüssel an, um seine drei pompösen Zellen zu räumen. Und Tantucci: „er entsagte gänzlich der Welt und in gewisser Weise auch seinem Orden und folgte durch viele Jahre dieser heiligen Jungfrau Caterina, wohin immer sie ging, sogar nach Avignon und nach Rom und in andere Gegenden bis zum Tod der Jungfrau.“ (Prozess 571–573).
Ähnliches geschah auch in Pisa 1375, weil man dort sagte, dass sie „die Heilige Schrift erklären würde“. So kamen Giovanni Gittalebraccia, er war in Medizin bewandert, und der Juraprofessor Pietro Albizzi. Sie versuchten Caterina mit unnötigen Fragen über die Natur Gottes in die Enge zu treiben: Caterina aber forderte sie auf, darüber nachzudenken, was wirklich nützlich für unsere Erlösung ist, und die Liebe zu entfachen (Prozess 495-497). Und schließlich gingen in Avignon drei hochgelehrte Prälaten zu ihr (einer davon ein Erzbischof aus dem Franzikanerorden), um sie nach ihrer für eine Frau ungewöhnlichen diplomatischen Mission, nach ihren Visionen und Ekstasen zu fragen und woher sie wisse, dass sie nicht vom Teufel getäuscht werde. Caterina antwortete ihnen mit solcher Demut und Erfahrung in der Kenntnis mystischer Phänomene, dass sie zufrieden wieder weggingen. Maconi berichtet weiter: Als sie am anderen Tag Francesco Casini, den Leibarzt des Papstes trafen, sagte dieser zu ihnen über diese Prüfung der drei Prälaten: „Wenn sie bei Caterina nicht eine so feste Glaubensgrundlage gefunden hätten, dann wäre dies die schlimmste Reise gewesen, die sie je auf sich genommen hätte“ (Prozess 396–398).

Auf diese Weise also versuchte man sie zu testen und sie mit wissenschaftlichen Begriffe, Definitionen und Unterscheidungen zu bombardieren. Caterina aber war auf einer anderen Ebene. Denn, während die Gelehrten nur die äußere Rinde verkosten würden (gestand ihr später Lazzarino da Pisa), sei sie (Caterina) zum Kern vorgedrungen. Zugleich zeigte sie mit ihrer Demut, dass die Wissenschaft der heiligen Dinge nicht am Maßstab der erlernten Begriffe gemessen werden sollte, sondern an ihrer tatsächlichen Einwirkung auf unser Leben.

Malavolti hat im Prozess (Prozess 593) bezeugt, dass Caterina „niemals an anderen Orten gewesen war, um lesen oder schreiben zu lernen“ und dass ihre einzigen Schulen „die Schulen des Heiligen Geistes“ waren.

Wenn man abschließend mit wenigen Worten das Charakteristische dieser einzigartigen Lehrerin zusammenfassen wollte, so könnte man es vielleicht so formulieren:

1. Caterina besaß die ständige Fähigkeit, auf die Grundwahrheiten hinzuweisen und ihre Lehre sofort im Dogma zu verankern. Damit war ihre Lehre streng und klar und unbestreitbar, weil sie immer zugleich von der Quelle gestützt erscheint. Zum Beispiel: ohne über die zeitliche Macht der Päpste zu sprechen schrieb sie an Gregor XI. (Brief 209): „Der Schatz der Kirche ist das Blut Christi, der Lösepreis für die Seele .... daher ist es besser, den Schlamm der zeitlichen Dinge preiszugeben, als das Gold des geistigen Besitzes.“ Und nochmals: Gott liebt uns für die Ewigkeit, auch wenn Er zulässt, dass wir von Prüfungen und Unglücksfällen geplagt werden. „Wer zeigt uns das? Das Blut! Denn wenn Gott etwas anderes für uns gewollt hätte, so hätte er uns nicht seinen Sohn geschenkt und der Sohn uns nicht sein Leben gegeben“ (Brief 25 an Tommaso dalla Fonte).

2. Caterina besaß die Fähigkeit zur umfassenden Analyse und klaren Synthese. Obwohl sie improvisierte, war sie in der Lage, Abhandlungen mit harmonischer und vollständiger, logischer und persönlicher Entwicklung zu verfassen. (Siehe die Theorie der Brücke, die Abhandlung über Tränen, über die Unterscheidung usw.)

3. Caterina besaß die Fähigkeit, sowohl Sinnzusammenhänge als auch konkrete Einzelheiten klar darzustellen. Und sie hatte den Mut, Schlussfolgerungen zu ziehen, die bis zum Ende gebracht werden, ohne auf halbem Weg anzuhalten. Weder kalt noch schüchtern und als eine Liebhaberin der Wahrheit überwindet sie die Abstraktheit der Theorie mit ihrer erlittenen und engagierten Lehre, die in ihrer inneren Erfahrung Fleisch und Blut geworden ist.

4. Caterina hatte eine autoritäre Art, ihre Ideen und Überzeugungen zu präsentieren, so als ob sie wüsste, dass sie auf Gottes Seite wäre. „Von Gott und von mir!“ sagt sie zum Papst. „Ich antworte Euch und sage Euch im Namen des gekreuzigten Christus“ (Brief 229 an Gregor);

5. Caterina besaß eine Universalität im Denken und Fühlen. Sie verschließt sich nicht in der kleinen Welt des „Ich", im Gegenteil, sie bekämpft sie. Sie besitzt eine große Weite im Denken. Sie stellt sich in das Herz der Kirche, identifiziert sich mit ihren Problemen, fühlt sich moralisch für alles verantwortlich und ist jedem verpflichtet. Zu Matteo Cenni sagt sie, dass die Liebe zu den Armen durch die Gabe materieller Güter nicht ausreicht: „Ich lade Euch ein, so wie Gott eine Seele einlädt, vor den Augen des barmherzigen Gottes Eure inständigen liebevollen Bitten unter Tränen und Mitleid auf die ganze Welt auszudehnen" (Brief 210 an Matteo Cenni).

Caterina ist eine Frau, die – zusammenfassend gesagt –, würdig ist, ein Doktor der Universalkirche zu sein, denn sie ist eine Lehrerin mit einem Herzen und Verstand, der in der Lage ist, alle Seelen zu erleuchten.

 

W. S.

 

Anmerkungen:

(1)   Das Referat stützt sich auf die Ausführungen von P. Giacinto d´Urso, O.P., Da illeterata a maestra, in: Il Genio di Santa Caterina, Studi sulla sua dottrina e personalità, in: Quaderni Cateriniani 8, Roma 1971, 40f.

(2)   Im Brief 272 an Raimund von Capua fügt Caterina am Schluss den Zusatz an, dass sie ihn „eigenhändig“ in Rocca d´Orcia schrieb, nachdem ihr Gott auf wunderbare Weise die Fähigkeit dazu geschenkt habe. Vgl. auch Prozess, S. 93f, wo Caffarini bezeugt: „Ich erkläre ferner, vom oben genannten Don Stefano da Siena durch seinen Brief Kenntnis erlangt zu haben, dass die Jungfrau, nachdem sie auf wundersame Weise schreiben gelernt hatte, einmal vom Gebet aufstand und das Verlangen spürte, etwas zu schreiben. Sie schrieb also mit eigener Hand einen Brief, den sie dem besagten Don Stefano schickte. Am Schluss schrieb sie, natürlich in ihrer Volkssprache: ‚Wisse, mein teuerster Sohn: dies ist der erste Brief, den ich jemals mit eigener Hand geschrieben habe‘ – [Das ist offenbar keiner von den uns bekannten Briefen an Stefano Maconi] – In dem genannten, an mich gerichteten Schreiben fügt der erwähnte Vater Don Stefano noch hinzu, dass die Jungfrau später in seiner Anwesenheit oft eigenhändig geschrieben habe, auch viele Seiten des Buches, das sie in ihrer Umgangssprache verfasste. Er teilte mir auch mit, dass er die besagten Schriften der Jungfrau wie Reliquien in der Kartause von Pontignano nahe bei Siena aufbewahre. Ich schrieb ihm hierauf, er möge gnädig anordnen, eines von den schriftlichen Zeugnissen der Jungfrau mir zu überlassen; ich habe aber noch keines erhalten.“ Vgl. auch Prozess, S. 28, wo Bartolomeo da Ferrara bemerkt: „Was die Tugend der Einsicht betrifft, so hatte die Jungfrau in der Tat das Wissen um sehr viele Dinge, die sie durch Unterweisung von ihrem Herrn und Bräutigam Jesus Christus erlangt hatte. So lernte sie auf wunderbare Weise lesen und schreiben, auch wenn sie schon durch natürliche Begabung eine hohe geistige Kraft und einen Intellekt hatte, durch den sie besonders befähigt war, alles zu erfassen.“